Vorlesezeit für Kinder: 9 min
Es war einmal eine Witwe, die hatte zwei Töchter, eine rechte Tochter und eine Stieftochter; beide hießen Maria. Die rechte Tochter war nicht gut und fromm, dagegen war die Stieftochter ein bescheidenes, sittiges Mädchen, das aber gar viele Kränkungen und Zurücksetzungen von Mutter und Schwester erdulden musste. Doch sie war stets freundlich, tat die Küchenarbeiten unverdrossen, und weinte nur manchmal heimlich in ihrem Schlafkämmerlein, wenn sie von Mutter und Schwester so viel Unbilliges zu leiden hatte. Aber bald war sie dann allemal wieder heiter und frischen Mutes, und sprach zu sich selbst: »Sei ruhig, der liebe Gott wird dir schon helfen.« Dann tat sie fleißig ihre Arbeit, und machte alles nett und sauber. Ihrer Mutter arbeitete sie immer nicht genug; eines Tages sagte diese sogar: »Maria, ich kann dich nicht länger zu Hause behalten, du arbeitest wenig und isst viel, und deine Mutter hat dir kein Vermögen hinterlassen, auch dein Vater nicht, es ist alles mein, und ich kann und mag dich nicht länger ernähren, daher du ausgehen musst, dir einen Dienst bei einer Herrschaft zu suchen.« Und sie buk von Asche und Milch einen Kuchen, füllte ein Krüglein mit Wasser, gab beides der armen Maria und schickte sie aus dem Hause.
Maria war sehr betrübt ob dieser Härte; doch schritt sie mutig durch die Felder und Wiesen, und dachte: es wird dich schon jemand als Magd aufnehmen, und vielleicht sind fremde Menschen gütiger als die eigene Mutter. Als sie Hunger fühlte, setzte sie sich ins Gras nieder, zog ihren Aschenkuchen hervor und trank aus ihrem Krüglein, und viele Vöglein flatterten herbei, pickten an ihrem Kuchen, und sie goss Wasser in ihre Hand und ließ die munteren Vöglein trinken. Und da verwandelte sich unvermerkt ihr Aschenkuchen in eine Torte, ihr Wasser in köstlichen Wein. Gestärkt und freudig zog die arme Maria weiter, und kam, als es dunkel wurde, an ein seltsam gebautes Haus, davor waren zwei Tore, eins sah pechschwarz aus, das andere glänzte von purem Gold. Bescheiden ging Maria durch das minder schöne Tor in den Hof und klopfte an die Haustüre. Ein Mann von schrecklich wildem Ansehen tat die Türe auf und fragte barsch nach ihrem Begehren. Sie sprach zitternd: »Ich wollte nur fragen, ob Ihr nicht so gütig sein möchtet, mich über Nacht zu beherbergen?« und der Mann brummte: »Komm herein!« Sie folgte ihm, und bebte noch mehr zusammen, als sie drinnen im Zimmer nichts weiter sah und hörte als Hunde und Katzen, und deren abscheuliches Geheul. Es war außer dem wilden Thürschemann (so hieß dieser Mensch) niemand weiter in dem ganzen Hause.
Nun brummte der Thürschemann der Maria zu: »Bei wem willst du schlafen, bei mir oder bei Hunden und Katzen?« Maria sprach: »Bei Hunden und Katzen.« Da musste sie aber gerade neben ihm schlafen, und er gab ihr ein schönes weiches Bett, dass Maria ganz herrlich und ruhig schlief. Am Morgen brummte Thürschemann: »Mit wem willst du frühstücken, mit mir oder mit Hunden und Katzen?« Sie sprach: »Mit Hunden und Katzen.« Da musste sie mit ihm trinken, Kaffee und süßen Rahm. Wie Maria fortgehen wollte, brummte Thürschemann abermals: »Zu welchem Tor willst du hinaus, zum Goldtor oder zum Pechtor?« und sie sprach: »Zum Pechtor.« Da musste sie durchs goldene gehen, und wie sie durchging, saß Thürschemann oben darauf und schüttelte so derb, dass das Tor erzitterte und dass Maria ganz von Gold überdeckt war, das von dem Goldtore auf sie herab fiel.
Nun ging sie wieder heim, und ins elterliche Haus eintretend kamen ihre Hühner, die sie sonst immer gefüttert, ihr freudig entgegen geflogen und gelaufen, und der Hahn schrie: »Kikeriki, da kommt die Goldmarie! Kikeriki!« Und ihre Mutter kam die Treppe herunter und knixte so ehrfurchtsvoll vor der goldenen Dame, als wenn es eine Prinzessin wäre, die ihr die Ehre ihres Besuches schenkte. Aber Maria sprach: »Liebe Mutter, kennst du mich denn nicht mehr? Ich bin ja die Maria.«
Jetzt kam auch die Schwester ganz erstaunt und verwundert, wie die Mutter, und beide voll Neides, und Maria musste erzählen, wie wunderbar es ihr ergangen, und wie sie zu dem Golde gekommen war.
Nun nahm sie ihre Mutter wohl auf, und hielt sie auch besser wie zuvor, und Maria wurde von jedermann geehrt und geliebt; bald fand sich auch ein braver junger Mann, der Marien als Gattin heimführte und glücklich mit ihr lebte.
Der andern Maria aber wuchs der Neid im Herzen, und sie beschloss, auch fortzugehen und übergoldet wiederzukommen. Ihre Mutter gab ihr süßen Kuchen und Wein mit auf die Reise, und wie Maria davon aß und Vöglein geflogen kamen, um auch mit zu schmausen, jagte sie dieselben ärgerlich fort. Ihr Kuchen aber verwandelte sich unvermerkt in Asche, und ihr Wein in mattes Wasser. Am Abend kam Maria ebenfalls an Thürschemanns Tore; sie ging stolz zu dem goldenen hinein, und klopfte dann an die Haustüre. Wie Thürschemann auftat und nach ihrem Begehren fragte, sagte sie schnippisch: »Nun, ich will hier übernachten.« Und er brummte: »Komm herein!« Dann fragte er auch sie: »Bei wem willst du schlafen, bei mir oder bei Hunden und Katzen?« Sie sagte schnell: »Bei Euch, Herr Thürschemann!« Aber er führte sie in die Stube, wo Hunde und Katzen schliefen und schloss sie hinein. Am Morgen war Mariens Angesicht hässlich zerkratzt und zerbissen. Thürschemann brummte wieder: »Mit wem willst du Kaffee trinken, mit mir oder mit Hunden und Katzen?« »Ei, mit Euch«, sagte sie, und musste nun gerade wieder mit Katzen und Hunden trinken. Nun wollte sie fort. Thürschemann brummte abermals: »Zu welchem Tor willst du hinaus, zum Goldtor oder zum Pechtor?« und sie sagte: »Zum Goldtor, das versteht sich!« Aber dieses wurde sogleich verschlossen und sie musste zum Pechtor hinaus, und Thürschemann saß obendrauf, rüttelte und schüttelte, dass das Tor wackelte und da fiel so viel Pech auf Marien herunter, dass sie über und über voll wurde.
Als nun Maria voll Wut ob ihres hässlichen Ansehens nach Hause kam, krähte der Gluckhahn ihr entgegen: »Kikeriki, da kommt die Pechmarie! Kikeriki!« Und ihre Mutter wandte sich voll Abscheu von ihr, und konnte nun ihre hässliche Tochter nicht vor Leuten sehen lassen, die hart gestraft blieb, darum, dass sie so auf Gold erpicht gewesen.

Hintergründe
Interpretationen
Analyse
„Die Goldmaria und die Pechmaria“ ist ein Märchen von Ludwig Bechstein, das viele Elemente klassischer Volksmärchen aufgreift und dabei eine moralische Lehre vermittelt. Die tugendhafte Goldmaria und die hochmütige Pechmaria. Dieses Märchen ist ein typisches Beispiel für die Kontrastierung von Tugend und Laster, eine häufige Thematik in vielen europäischen Märchen.
Tugend und Bescheidenheit: Goldmaria zeichnet sich durch Bescheidenheit, Fleiß und Freundlichkeit aus, obwohl sie von ihrer Stiefmutter und -schwester ungerecht behandelt wird. Ihre Tugend wird letzten Endes belohnt, was dem Gedanken entspricht, dass ein gutes Herz und eine bescheidene Natur zu einem glücklichen und erfüllten Leben führen.
Neid und Hochmut: Im Gegensatz dazu steht Pechmaria, die aus Neid und Egoismus handelt. Ihre undankbare und hochmütige Art führt zu ihrem Untergang, was als Warnung verstanden werden kann, dass solche Eigenschaften negative Konsequenzen nach sich ziehen.
Belohnung und Bestrafung: Das Märchen zeigt deutlich den dualistischen Ansatz von Belohnung für positive Eigenschaften und Bestrafung für negative Eigenschaften. Dieses Thema ist weit verbreitet in der moralischen Erziehung, die Volksmärchen häufig anstreben.
Die Macht des Göttlichen oder Mystischen: Wie viele andere Märchen enthält auch dieses übernatürliche Elemente (wie die Verwandlung der Speisen und der Tore), die symbolisch für einen höheren, moralischen Ausgleich stehen. Dies spiegelt die Idee wider, dass eine höhere Macht (oder das Schicksal) genau bemerkt, was gerecht oder ungerecht ist, und entsprechend handelt.
Das Märchen folgt dem klassischen Aufbau mit einer klaren Einführung der Charaktere und ihrer Eigenschaften, einer Prüfungsphase, in der die Protagonisten getestet werden, und einem Schluss, in dem die Konsequenzen ihrer Handlungen klar dargestellt werden. Stilistisch ist Bechsteins Märchen von einfacher Sprache und klarer Bildsprache geprägt, was es zugänglich und verständlich für ein breites Publikum macht. Die Verwendung von Wiederholungen und kontrastierenden Szenen zwischen den beiden Marias hebt die Unterschiede in ihren Charakteren hervor.
„Die Goldmaria und die Pechmaria“ weist Parallelen zu anderen Märchen auf, insbesondere zu Grimms „Frau Holle“. Beide Geschichten haben zwei weibliche Protagonisten, von denen die Bescheidene belohnt und die Hochmütige bestraft wird. Solche Märchen spiegeln gesellschaftliche Werte und Moralvorstellungen wider, die von den Erzählern an das Publikum weitergegeben werden sollten.
Insgesamt gibt „Die Goldmaria und die Pechmaria“ ein lehrreiches Beispiel für die moralischen Belohnungen und Bestrafungen menschlichen Verhaltens und illustriert die Tugenden von Freundlichkeit, Bescheidenheit und Fleiß.
„Die Goldmaria und die Pechmaria“ von Ludwig Bechstein ist ein Märchen, das auf eindringliche Weise die Themen Tugend und Gerechtigkeit behandelt, indem es den traditionellen Märchenstrukturen folgt. Unterschiedliche Interpretationen des Märchens bieten unterschiedliche Perspektiven auf seine Moral und seine Charaktere.
Moralisches Lehrstück: Auf den ersten Blick erscheint das Märchen als eine einfache moralische Erzählung über Belohnung und Bestrafung. Die tugendhafte, bescheidene Stieftochter (Goldmaria) wird für ihre Güte belohnt, während die eigennützige, neidische rechte Tochter (Pechmaria) für ihre schlechten Eigenschaften bestraft wird. Diese Interpretation zeigt den Wert von Tugenden wie Bescheidenheit, freundlichem Verhalten und Hilfsbereitschaft.
Gesellschaftliche Kritik: Eine tiefere Betrachtung könnte eine subtile Kritik an gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten sein. Die Behandlung der Stieftochter durch die Mutter und ihre Schwester reflektiert möglicherweise soziale und familiäre Strukturen, in denen bestimmte Mitglieder ungerecht behandelt werden. Die Erzählung könnte nachdenklich machen über die Rolle von familiären Machtstrukturen und Vorurteilen, insbesondere in patriarchalen Gesellschaften.
Symbolik von Gold und Pech: Das Märchen verwendet starke Symbole. Gold steht für Belohnung, Ansehen und Glück, während Pech für Bestrafung und Schande steht. Diese Symbole könnten auch für die innere Verfassung und das Selbstwertgefühl der Charaktere stehen. Während Goldmarias innere Güte schließlich in äußerem Reichtum manifestiert wird, wird Pechmarie äußerlich mit ihren inneren Mängeln konfrontiert.
Übernatürliche Prüfung: Die Geschichte kann auch als eine Allegorie über Prüfungen im Leben gesehen werden, bei denen man zwischen verschiedenen Wegen wählen kann. Die Wahl der Tore (golden oder pechschwarz) und das Verhalten gegenüber den Tieren prüfen die Charaktereigenschaften der Schwestern.
Religiöser Unterton: Das Märchen könnte spirituelle oder religiöse Untertöne haben. Die Geduld und Zuversicht von Goldmaria könnten als Metapher für einen gläubigen Lebensweg verstanden werden, bei dem Gutes mit Gutem belohnt wird, während der Egoismus und das Fehlverhalten von Pechmarie ohne Unterstützung von höheren Mächten zur Bestrafung führt.
Insgesamt bleibt „Die Goldmaria und die Pechmaria“ ein reiches Märchen, das durch seine simplen, aber effektiven Motive viel Raum für Interpretation und kritische Reflexion bietet. Jede Lesart beleuchtet unterschiedliche Aspekte menschlichen Verhaltens und gesellschaftlicher Normen.
Die linguistische Analyse von Ludwig Bechsteins Märchen „Die Goldmaria und die Pechmaria“ beleuchtet verschiedene sprachliche Merkmale und stilistische Mittel, die der Autor verwendet, um moralische Lektionen zu vermitteln und die Charaktere und Ereignisse zu gestalten. Hier sind einige Punkte, die für die Analyse von Interesse sein könnten:
Charakternamen und Bezeichnungen: Die Namen Goldmaria und Pechmaria sind symbolisch und spiegeln das Schicksal der beiden Charaktere wider. „Gold“ steht für Belohnung und Positivität, während „Pech“ Negativität und Bestrafung impliziert. Diese Bezeichnungen schaffen sofort eine Verbindung zu den moralischen Qualitäten der beiden Maria-Figuren.
Gegensätzliche Charakterdarstellung: Die rechte Tochter und die Stieftochter werden durch gegensätzliche Adjektive charakterisiert: Die eine ist „nicht gut und fromm“, die andere „bescheiden“ und „sittig“. Diese Antithetik zieht sich durch das gesamte Märchen und verstärkt die Wirkung der moralischen Botschaft, dass Tugend belohnt wird, während Neid und Hochmut bestraft werden.
Sprache und Tonfall: Der Ton des Märchens ist schlicht und volkstümlich, typisch für Bechsteins Erzählstil. Die direkte Sprache und die einfache Syntax machen die Geschichte leicht zugänglich für ein breites Publikum, einschließlich Kinder. Der Gebrauch von Dialogen, insbesondere den oft brummigen Äußerungen des Thürschemanns, verleiht der Geschichte Lebendigkeit.
Symbolik und Metaphern: Das Märchen verwendet starke symbolische Elemente, etwa die Verwandlung von Aschenkuchen in Torte und von Wasser in Wein als Symbol für Marias Belohnung für ihre Tugenden. Ebenso ist die Verwandlung süßen Kuchens in Asche und von Wein in Wasser symbolisch für die Bestrafung von Pechmaria.
Motiv der Prüfung: Die Begegnung mit dem Thürschemann und die Entscheidungen, die die beiden Marias treffen müssen (z. B. wo sie schlafen wollen und durch welches Tor sie gehen wollen), stellen Prüfungen dar, die ihren Charakter offenbaren und über ihr Schicksal entscheiden. Diese Prüfungen sind eine gängige Struktur in Märchen, die das Thema von gerechter Belohnung und Bestrafung unterstützen.
Dialektik von Heim und Fremde: Das Motiv der Vertreibung aus dem Heim und die Suche nach einem besseren Ort ist zentral im Märchen. Während Goldmaria in der Fremde mit Güte und Gerechtigkeit konfrontiert wird, erlebt Pechmaria das Gegenteil. Dies unterstreicht die Idee, dass Tugend unabhängig von der Umwelt zu Licht führen kann.
Insgesamt nutzt Bechstein traditionelle Märchenkonventionen, um eine eindrucksvolle Geschichte über Moral, Strafe und Belohnung zu erzählen. Die klaren Gegensätze, die symbolische Sprache und die prüfenden Elemente des Märchens tragen effektiv zur starken moralischen Botschaft bei.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
---|---|
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 78.2 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 29.7 |
Flesch-Reading-Ease Index | 64.5 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 7.1 |
Gunning Fog Index | 6.7 |
Coleman–Liau Index | 12 |
SMOG Index | 9.6 |
Automated Readability Index | 7.1 |
Zeichen-Anzahl | 1.788 |
Anzahl der Buchstaben | 1.431 |
Anzahl der Sätze | 26 |
Wortanzahl | 295 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 11,35 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 54 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 18.3% |
Silben gesamt | 456 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,55 |
Wörter mit drei Silben | 32 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 10.8% |