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Es hatte ein reicher König eine sehr schöne Tochter; als diese sich verheiraten wollte, mussten sich alle Freier auf einer großen grünen Wiese versammeln, da warf sie nun einen goldenen Apfel mehrmals in die Luft, und wer ihn auffing und sich unterstand, drei Bund oder drei Aufgaben, die sie selbst aufgab, zu lösen, der sollte sie dann zur Gemahlin haben. Da hatten nun viele den Apfel aufgefangen, zuletzt auch ein schöner muntrer Schäfersbursch, aber von allen war keiner imstande, die drei Aufgaben zu lösen. Da kam nun die Reihe an den Schäfersburschen, als an den letzten und geringsten unter den Freiern. Die erste Aufgabe war die: Der König hatte in einem Stalle hundert Hasen, wer die auf die Weide trieb, hütete und am Abend alle wieder zurückbrachte, der hatte die erste Aufgabe erledigt. Als das der Schäfersbursche vernahm, sprach er, er wollte sich erst noch einen Tag darüber besinnen, am andern Tage aber ganz gewiss bestimmen, ob er sich getraue, die Sache zu unternehmen oder nicht. Nun lief aber der Schäfersbursche auf den Bergen umher und war traurig, denn er scheute sich vor dem gewagten Unternehmen. Da begegnete ihm ein altes Mütterchen und fragte ihn nach der Ursache seiner Traurigkeit; er aber sagte: »Ach, mir kann niemand helfen.«
Da sprach das graue Mütterchen: »Urteile nicht so vorlaut; sage dein Anliegen, vielleicht kann ich dir helfen.« Und da erzählte er denn die Aufgabe. Da gab ihm das Mütterchen ein Pfeifchen und sagte: »Hebe es wohl auf, es wird dir nützen!« Und ehe noch der Bursche sich bedankt hatte, war das Mütterchen verschwunden.
Nun ging er fröhlich hin zum König und sprach: »Ich will die Hasen hüten!« Und da wurden sie aus dem Stalle herausgelassen. Als aber der letzte heraus war, sah man den ersten schon nicht mehr, der war schon über alle Berge. Der Bursche aber ging hinaus aufs Feld und setzte sich auf einen grünen Hügel und dachte: Was fang ich an? Da fiel ihm sein Pfeifchen ein; er tat es schnell heraus und pfiff, da kamen die hundert Hasen alle wieder gesprungen und weideten lustig um ihn herum an dem grünen Hügel.
Dem König und der schönen Prinzessin aber war gar nichts daran gelegen, dass der Schäfer die Aufgabe löse und die Prinzessin sich gewinne, weil er ein so geringer Schlucker war und nicht hochgeboren, und sie sannen auf Listen, dass der Hasenhüter seine Herde nicht vollzählig heimbringe.
Da kam die Königstochter daher gegangen und hatte sich verkleidet und ihr Gesicht verändert, dass er sie nicht kennen sollte, aber er kannte sie doch. Als sie nun die Hasen noch alle erblickte, fragte sie: »Kann man hier nicht einen von den Hasen kaufen?«
Da sagte der Bursche: »Zu verkaufen gibt’s keinen, aber abzuverdienen!«
Da fragte sie weiter: »Wie ist das zu verstehen?«
Da sprach der Bursche: »Wenn Ihr Euch mir zum Liebchen gebet und eine süße Schäferstunde mit mir haltet!« Sie wollte aber nicht. Da sie aber doch gern einen Hasen wollte und er keinen anders hergab, so bequemte sie sich endlich doch dazu. Da er sie nun genugsam geherzt und geküsst hatte, fing er ihr einen Hasen und steckte ihn in ihr Handkörbchen, und sie ging fort. Als sie nun wohl eine Viertelstunde weit von ihm weg war, pfiff er auf seinem Pfeifchen, und geschwind drückte der Hase den Deckel des Körbchens auf, sprang heraus und kam wieder gesprungen.
Nicht lange währte es, da kam der alte König und hatte sich auch vermummt, aber der Bursche kannte ihn doch. Der König kam auf einem Esel geritten und hatte hüben und drüben einen Korb hängen. Der König fragte: »Wird kein Hase verkauft?«
»Nein, verkauft nicht, aber abverdient kann einer werden!« antwortete ihm dreist der Bursche.
»Wie ist das zu verstehen?« fragte der König.
»Wenn Ihr den Esel hier unter den Schwanz küsst«, begann der Bursche, »sollt Ihr einen haben!« Das wollte der König aber nicht tun; und er bot ihm schweres Geld, wenn er einen verkaufen wollte; der Bursche aber tat es nicht. Da nun der König sah, dass er keinen Hasen zu kaufen kriegte, bequemte er sich endlich dazu und gab dem Esel einen tüchtigen Schmatz unter den Schwanz; dann wurde ein Hase gefangen, in den einen Korb am Esel gesteckt, und der König zog fort. Er war aber noch nicht weit, da pfiff der Bursche, und der Hase hüpfte aus dem Korbe heraus und kam wieder.
Darauf kam der König nach Hause und sagte: »Es ist ein loser Bursche, ich konnte keinen Hasen bekommen!« Was er getan hatte, sagte er nicht.
»Ja!« erwiderte die Prinzessin, »so ging mir es auch!« Was sie aber getrieben hatte, gestand sie auch nicht. Als es Abend war, kam der Bursche mit seinen Hasen und zählte dem Könige sie vor, alle hundert zum Stall hinein.
Nun begann der König: »Die erste Aufgabe ist gelöst und nun geht es an die zweite! Merk auf! Hundert Maß Erbsen und hundert Maß Linsen liegen auf meinem Boden, diese habe ich untereinander schütten und wohl durchmengen lassen, wenn du diese in einer Nacht ohne Licht auseinander sonderst, dann hast du die zweite Aufgabe vollbracht.«
Der Bursche sprach: »Ich kann es!« Und da wurde er auf den Boden gesperrt, und es wurde die Türe fest verschlossen. Da nun alles im Schlosse ruhig war, pfiff er auf seinem Pfeifchen; da kamen gekrochen viele tausend Ameisen und wimmelten und krabbelten so lange, bis die Erbsen wieder auf einem besonderen Haufen waren und die Linsen auch.
Als nun früh der König nachsah, war die Aufgabe gelöst, die Ameisen aber sah er nicht, die waren wieder fort. Der König wunderte sich und wusste nicht, wie es der Bursche machte. Darauf sprach er: »ich will dir nun auch die dritte Aufgabe sagen. Wenn du in künftiger Nacht dich durch eine große Kammer voll Brot hindurch isst, dass nichts übrig bleibt, dann hast du die dritte Aufgabe vollbracht und dann sollst du meine Tochter haben!«
Als es nun dunkel war, wurde der Bursche in eine Brotkammer gesteckt, die war so voll, dass bei der Türe nur ein Plätzchen leer war, wo er hintrat. Wie aber alles ruhig im Schlosse war, pfiff er wieder auf seinem Pfeifchen; da kamen daher so viele Mäuse, dass es ihm schier unheimlich wurde; und als es tagte, war das Brot alles aufgefressen, dass kein Krümchen mehr übrig war! Er aber polterte an der Türe und schrie: »Macht auf! Ich habe Hunger!« Da war nun auch die dritte Aufgabe gelöst.
Der König aber sagte: »Sage uns zum Spaß noch einen Sack voll Lügen, dann sollst du meine Tochter bekommen!«
Da fing der Bursche an und sagte schreckliche Lügen einen halben Tag lang, aber der Sack wollte immer nicht voll werden. Da erzählte er endlich: »Ich habe mit der allerliebsten Prinzessin, meiner Braut, auch schon ein Schäferstündchen gehalten!«
Bei diesen Worten wurde sie feuerrot, der König sah sie an, und ob es gleich Lügen sein sollten, so glaubte er’s doch und bildete sich schon ein, wie und wo es geschehen sei. »Der Sack ist aber noch nicht voll!« rief er.
Da begann der Bursche: »Der Herr König hat auch den Esel …«
»Er ist voll, er ist voll! Strickt zu!« rief der König, denn er schämte sich und wollte es nicht wissen lassen, welche Ehre dem Esel durch seinen königlichen Mund zuteil geworden war, da sein ganzer Hofstaat im Kreise herumstand. Und wurde die Hochzeit des Schäferburschen mit der Königstochter gefeiert, vierzehn Tage lang, und da ging es so hoch her und lustig zu, dass der es erzählt hat, wünscht, er wäre auch ein Gast dabei gewesen.

Hintergründe
Interpretationen
Analyse
„Der Hasenhüter und die Königstochter“ ist ein Märchen von Ludwig Bechstein, das stark moralische und soziale Themen beleuchtet. Im Zentrum der Geschichte steht ein einfacher Schäfersbursch, der sich in einem Wettstreit um die Hand der schönen Königstochter behaupten muss. Das Märchen enthält klassische Elemente wie magische Hilfe, List und schicksalhafte Prüfungen.
Der Hauptprotagonist, der Schäfersbursch, ist ein Außenseiter in der Gruppe der Freier, da er weder von adeliger Abstammung ist noch über Reichtum verfügt. Trotz dieser Nachteile bewältigt er die ihm gestellten Aufgaben mit List und Hilfe eines magischen Pfeifchens, das ihm von einer alten Frau, vermutlich einer Fee, geschenkt wurde.
Die erste Aufgabe besteht darin, hundert Hasen den Tag über zu hüten und abends vollzählig zurückzubringen. Die Königstochter und der König versuchen, ihn zu täuschen, indem sie sich verkleiden und versuchen, Hasen zu entwenden. Doch der Bursche durchschaut die Täuschungen und nutzt sein Pfeifchen, um die Hasen zurückzurufen.
Für die zweite Aufgabe, das Trennen von vermischten Erbsen und Linsen, erhält der Schäfersbursch erneut magische Hilfe. Ein Heer von Ameisen erscheint auf sein Pfeifen hin und sortiert die Körner über Nacht.
Die dritte Aufgabe erfordert, dass er sich durch eine Brot gefüllte Kammer hindurch isst. eine Armee von Mäusen frisst das Brot für ihn auf.
Zum Schluss verlangt der König von ihm einen „Sack voll Lügen“. Während der Bursche Lügen erzählt, offenbart er letztlich die Wahrheit über seine Schäferstunde mit der Prinzessin und die Szene mit dem König, was ihnen peinlich ist und den König veranlasst, die Bedingung als erfüllt zu akzeptieren.
Neben dem offensichtlichen Humor und den fantastischen Elementen thematisiert das Märchen auch den Unterschied zwischen sozialem Status und wahrem Wert. Der einfache Bursche siegt durch Cleverness, Mut und moralische Standhaftigkeit, was schließlich zur Hochzeit mit der Königstochter führt. Es wirkt dadurch als plädoy für die Weisheit und Tugend der „einfachen Leute“ gegenüber der Verkünsteltheit und Arroganz der Mächtigen.
„Der Hasenhüter und die Königstochter“ ist ein faszinierendes Märchen von Ludwig Bechstein, das mehrere interessante Motive und Themen aufgreift.
Lassen Sie uns einige davon genauer betrachten
Die Aufgaben und ihre symbolische Bedeutung: Jede Aufgabe symbolisiert eine Prüfung der Fähigkeiten und des Charakters des Schäfers. Die erste Aufgabe, das Hüten der Hasen, erfordert Geduld und Einfallsreichtum. Die zweite, das Trennen der Erbsen und Linsen, steht für Präzision und die Fähigkeit, in chaotischen Situationen Ordnung zu schaffen. Schließlich repräsentiert die dritte Aufgabe, das Essen einer ganzen Kammer voller Brot, möglicherweise den Umgang mit Überfluss und das Überwinden scheinbar unüberwindbarer Hindernisse.
Die Rolle der Hilfe: Der Schäfer hätte seine Aufgaben nicht ohne die Hilfe des alten Mütterchens, das ihm das magische Pfeifchen gibt, bewältigen können. Diese Figur könnte als Vertreterin der Magie, der Weisheit oder des Schicksals gesehen werden, die den vermeintlich Schwachen oder Unterlegenen zum Erfolg verhilft.
Die Rolle von Täuschung und Intelligenz: Sowohl der Schäfer als auch der König und seine Tochter verwenden Täuschung, um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen. Der Schäfer kennt jedoch die wahren Identitäten seiner Gegner und nutzt sein Wissen und seine Intelligenz, um schließlich zu triumphieren.
Gesellschaftliche Hierarchie und Gerechtigkeit: Das Märchen stellt die gängige gesellschaftliche Hierarchie in Frage, indem es einen einfachen Schäfer zum potenziellen Bräutigam der Königstochter erhebt. Durch seine Intelligenz und Entschlossenheit überwindet der Schäfer die sozialen Barrieren, was die Idee unterstützt, dass Wert und Würde nicht zwangsläufig mit sozialem Rang einhergehen.
Die Macht der Worte: Die letzte Aufgabe, einen „Sack voll Lügen“ zu erzählen, untersucht die Wirkung von Worten und Geschichten. Die Reaktion des Königs auf die Lügen des Schäfers zeigt, dass Worte Macht haben, die Realität zu formen und gesellschaftliche Ordnungen zu verändern.
Dieses Märchen bleibt spannend, weil es über das Offensichtliche hinausgeht und tieferliegende Themen von Klugheit, Gerechtigkeit und sozialem Wandel berührt. Bechstein spielt mit den Erwartungen und Normen seiner Zeit und bietet so ein vielschichtiges Narrativ, das auch heute noch relevant ist.
Die linguistische Analyse des Märchens „Der Hasenhüter und die Königstochter“ von Ludwig Bechstein kann auf mehreren Ebenen erfolgen: syntaktisch, semantisch, pragmatisch und stilistisch.
1.
Syntaktische Analyse:
Der Text ist in einer klassischen, märchenhaften Struktur verfasst, die oftmals lange Sätze mit mehreren Nebensätzen enthält. Diese Struktur ermöglicht es, komplexe Handlungsabfolgen innerhalb eines Satzes zu beschreiben. Der Satzbau ist typischerweise hypotaktisch, was der Erzählung eine gewisse Eleganz und Komplexität verleiht.
2.
Semantische Analyse:
Die Geschichte handelt von den Themen Mut, Intelligenz und List gegenüber Standesunterschieden und Vorurteilen. Der semantische Kern liegt in der Überwindung sozialer Barrieren durch Cleverness und magische Hilfe. Der Schäfersbursche symbolisiert hierbei den Underdog, der durch eigene Fähigkeiten und Unterstützung über sich hinauswächst.
3.
Pragmatische Analyse:
Pragmatisch gesehen, adressiert das Märchen die Vorstellung von Fairness und Belohnung des Mutigen und Klugen. Es vermittelt Werte wie Durchhaltevermögen und Cleverness, zugleich kritisch gegenüber sozialen Ungleichheiten. Die Interaktionen zwischen den Figuren verdeutlichen soziale Rollen und Machtstrukturen.
4.
Stilistische Analyse:
Stilistisch zeigt das Märchen typische Merkmale der Romantik, etwa die Betonung der Emotionen und die Verwendung von magischen Elementen. Die ursprüngliche Sprache stärkt den märchenhaften Charakter und bindet traditionelle Elemente wie das Dreiermotiv ein (drei Aufgaben). Die Dialoge enthalten archaische Wendungen, die dem Text historisches Flair verleihen.
Beitrag dieser Elemente zur Erzählung:
– Magische Elemente: (der Einsatz eines Pfeifchens, mithilfe dessen der Bursche unmögliche Aufgaben löst) kennzeichnen das Fantastische des Märchens und setzen die Rahmenbedingungen für das Übernatürliche.
Humor und Ironie: ziehen sich durch die Erzählung, besonders in den Szenen, in denen der König und die Prinzessin überlistet werden. Diese Elemente verleihen dem Märchen Leichtigkeit.
Soziale Kritik: wird subtil vermittelt, etwa durch die Darstellung der Diskrepanz zwischen den standesgemäßen Erwartungen des Königs und der tatsächlichen Fähigkeiten des Schäfersburschen.
Die Linguistik des Märchens trägt wesentlich dazu bei, die moralische Botschaft zugänglich und die Geschichte unterhaltsam zu machen.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
---|---|
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 76.2 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 33.3 |
Flesch-Reading-Ease Index | 62.8 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 8 |
Gunning Fog Index | 8.4 |
Coleman–Liau Index | 12 |
SMOG Index | 10.1 |
Automated Readability Index | 8.5 |
Zeichen-Anzahl | 2.647 |
Anzahl der Buchstaben | 2.134 |
Anzahl der Sätze | 31 |
Wortanzahl | 440 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 14,19 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 84 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 19.1% |
Silben gesamt | 674 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,53 |
Wörter mit drei Silben | 44 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 10% |