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Eine Nonne, ein Bergmann und ein Schmied wanderten miteinander durch die Welt. Einmal hatten sie sich in einem großen finstren Walde verirrt, so dass sie froh sein mussten, als sie endlich in der Ferne ein Gemäuer erblickten, darin sie Obdach zu finden dachten. Sie gingen also darauf zu und sahen, dass es ein altes wüstes Schloss war, schon halb verfallen, doch noch so weit erhalten, dass man allenfalls und zur Not noch darin wohnen konnte. Darum beschlossen sie, darin zu bleiben, und hielten Rat, wie sie sich einrichten wollten. Bald wurden sie einig, dass immer eins von ihnen daheim bleiben und die Wirtschaft bestellen sollte, während die beiden andern aus wären, um Nahrungsmittel herbeizuschaffen.
Das Los, zu Hause zu bleiben, traf zuerst die Nonne. Als nun der Bergmann und der Schmied in den Wald gegangen waren, so besorgte die Nonne die Küche, und als ihre Gefährten zur Mittagszeit nicht heimkamen, verzehrte sie einstweilen ihren Teil von der Mahlzeit. Da trat auf einmal ein graues Männchen zur Tür herein, schüttelte sich und sprach: »O wie friert mich!«
Die Nonne antwortete: »Setze dich zum Ofen und wärme dich.«
Das Männchen tat, wie ihm die Nonne gebot, aber bald rief es: »O wie hungert mich!«
Die Nonne sagte: »Auf dem Ofen steht Essen, so iss.« Da machte sich das Männchen über das Essen und aß in Geschwindigkeit alles auf, was da war. Darüber wurde die Nonne zornig und schalt es, dass es für ihre Gefährten gar nichts übriggelassen hätte. Da geriet auch das Männchen in einen großen Zorn, nahm die Nonne, schlug sie und warf sie von einer Wand zur andern. Darauf ließ das böse Männchen die Nonne liegen und ging seines Weges. Am Abend kamen die beiden Gefährten der Nonne nach Hause, und als sie hungrig ihr Essen verlangten und nichts mehr fanden, so machten sie der Nonne heftige Vorwürfe und wollten ihr nicht glauben, als sie ihnen erzählte, was ihr widerfahren wäre.
Den folgenden Tag erbot sich der Bergmann, das Haus zu hüten, und versprach, er werde schon dafür sorgen, dass niemand hungrig zu Bette gehen müsse. So gingen nun die beiden andern in den Wald, und der Bergmann besorgte das Essen, verzehrte seinen Teil und setzte dann das übrige auf den Ofen. Da trat das Männchen herein, aber wie erschrak der Bergmann, als er sah, dass es zwei Köpfe hatte. Es schüttelte sich und sprach: »O wie friert mich!« Ganz voller Furcht verwies es der Bergmann zum Ofen. Bald darauf fing es an zu Klagen: »O wie hungert mich!«
»Auf dem Ofen steht Essen, so iss!« antwortete der Bergmann. Da fiel das Männchen mit seinen beiden Köpfen über das Essen her, und bald war alles aufgezehrt und die ganze Schüssel wie ausgeleckt. Als der Bergmann das Männchen deswegen ausschalt, erging es ihm, wie es der Nonne ergangen war – das Männchen schlug ihn braun und blau, warf ihn gegen alle Wände, dass es krachte und ihm Hören und Sehen verging, ließ ihn dann liegen und ging davon. Als nun am Abend der Schmied mit der Nonne heimkam und nichts für beider Hunger fand, geriet er mit dem Bergmann in Streit und vermaß sich hoch und teuer, morgen, wo an ihm die Reihe sei, das Haus zu hüten, da sollte es keinem an Essen fehlen.
Als am andern Tage das Essen fertig war, kam das Männchen wieder, und diesmal hatte es drei Köpfe. Es klagte über Frost, und der Schmied hieß es, sich ah den Ofen setzen. Als es darauf über Hunger klagte, teilte der Schmied von dem Essen etwas ab und setzte es ihm hin. Damit war das Männchen geschwind fertig; es sah sich mit seinen sechs Augen begierig um und verlangte mehr, und als der Schmied sich weigerte, ihm mehr zu reichen, wollte es ihm mitspielen wie der Nonne und dem Bergmann. Der Schmied aber war nicht faul, nahm seinen großen Schmiedehammer, ging auf das Männchen los und schlug ihm zwei von seinen Köpfen ab, so dass das Männchen seinen dritten Kopf zwischen die Ohren nahm und eilig die Flucht ergriff. Der Schmied lief ihm durch viele Gänge nach, bis es bei einer eisernen Tür plötzlich vor ihm verschwand. Nun musste der Schmied es aufgeben, das Männchen weiter zu verfolgen, nahm sich aber vor, nicht eher zu ruhen, als bis er mit seinen beiden Gefährten alles glücklich bestanden hätte. Indessen waren der Bergmann und die Nonne nach Hause gekommen. Der Schmied brachte ihnen, wie er versprochen hatte, ihr Essen und erzählte ihnen sein Abenteuer und zeigte ihnen die beiden abgehauenen Köpfe, die sie mit verdrehten Augen anstarrten. Darauf beschlossen alle drei, sich von dem grauen Männchen, wenn es möglich wäre, ganz zu befreien, und gleich am folgenden Tage gingen sie ans Werk. Sie mussten lange suchen, ehe sie die eiserne Tür fanden, bei der das Männchen gestern verschwunden war, und es kostete große Mühe, ehe sie sie aufzusprengen vermochten. Da tat sich ein weites Gewölbe vor ihnen auf; darin saß ein schönes junges Mädchen an einem Tische und arbeitete. Sie sprang auf und fiel ihnen zu Füßen, indem sie ihnen für ihre Befreiung dankte und erzählte, sie sei eine Königstochter und von einem mächtigen Zauberer hierher gebannt worden; gestern Mittag habe sie auf einmal empfunden, dass der Zauber gelöst sei und seitdem habe sie jede Stunde auf Befreiung gehofft. Aber außer ihr sei noch eine andre Königstochter in dieses Schloss gebannt. Darauf gingen jene und suchten auch diese andre Königstochter auf und befreiten sie. In großen Freuden dankte sie ihnen ebenfalls und sagte, dass auch sie gestern zu Mittag es gefühlt habe, wie ihre Verzauberung gelöst sei. Nun erzählten die beiden Königstöchter ihren Befreiern, in verborgenen Kellern des Schlosses sei ein großer Schatz, den ein schrecklicher Hund bewache. Sie gingen nun danach und fanden endlich den Hund, und der Schmied erschlug ihn mit seinem schweren Hammer, wie er sich auch zur Wehr setzen mochte. Der Schatz aber war Gold und Silber, ganze Pfannen voll, und dabei saß als Hüter ein schöner Jüngling. Der ging ihnen entgegen und dankte ihnen, dass sie ihn erlöst hätten. Er sei der Sohn eines Königs, aber von einem Zauberer in dieses Schloss gebannt und in das dreiköpfige Männchen verwandelt worden. Als er zwei von seinen Köpfen verloren, da sei die Verzauberung der beiden Königstöchter gehoben worden, und als der Schmied den grässlichen Hund erschlagen, da sei auch er erlöst gewesen. Dafür sollten sie nun den ganzen Schatz zum Lohne haben. Darauf ward der Schatz geteilt, und ehe sie damit fertig wurden, hatten sie lange zu tun; die beiden Königstöchter aber heirateten aus Dankbarkeit für ihre Erlösung die eine den Schmied und die andere den Bergmann, und der schöne Königssohn heiratete die Nonne.
So lebten sie in Frieden und Freude zusammen bis an ihr Ende.

Hintergründe
Interpretationen
Analyse
„Die Nonne, der Bergmann und der Schmied“ von Ludwig Bechstein ist ein klassisches Märchen, das typische Elemente traditioneller Märchenerzählungen enthält. Hier sind einige Hintergrundinformationen und Analysen zu diesem Märchen:
Struktur und Elemente: Das Märchen folgt einer klassischen Drei-Akt-Struktur, die in vielen Volksmärchen zu finden ist. Es beginnt mit einer Herausforderung (das Verirren im Wald), einer Konfrontation mit dem übernatürlichen Element (dem dreiköpfigen Männlein) und endet mit der Lösung der Konflikte und der Belohnung der Helden (die Befreiung der Prinzessinnen und des Königssohns).
Charaktere und Symbolik
Die Nonne, der Bergmann und der Schmied: Diese Figuren könnten unterschiedliche gesellschaftliche Rollen und Fähigkeiten symbolisieren. Die Nonne steht für Spiritualität und Glauben, der Bergmann für Arbeit in den Tiefen der Erde und der Schmied für Handwerkskunst und Stärke.
Das graue Männchen: Es symbolisiert eine Prüfungs- und Transformationsebene. Die drei Köpfe könnten verschiedene Herausforderungen oder Eskalationsstufen darstellen.
Der Schatz und der Hund: Häufig sind Schätze in Märchen durch gefährliche Wächter geschützt, was die Überwindung von Prüfungen und Ängsten symbolisiert. Der Hund steht hier für eine finale Prüfung.
Thematische Aspekte
Prüfung und Belohnung: Die Geschichte betont die Notwendigkeit, Prüfungen zu bestehen, um zu Wachstum und Belohnung zu gelangen. Die Figuren müssen Mut und Klugheit beweisen.
Verwandlung und Erlösung: Die Befreiung von Flüchen ist ein wiederkehrendes Motiv. Sie symbolisiert oft die Überwindung von persönlichen oder kollektiven Krisen.
Zusammenhalt und Kooperation: Die drei Protagonisten müssen zusammenarbeiten, um die Herausforderungen zu meistern. Dies zeigt die Wichtigkeit von Teamarbeit.
Märchenspezifische Merkmale
Zauber und Verwandlung: Klassische Zauberelemente wie Flüche und deren Aufhebung spielen eine zentrale Rolle.
Dreiheit: Die Zahl Drei ist in vielen Märchen bedeutungsvoll und symbolisiert Vollständigkeit und Harmonie in den Herausforderungen und ihrer Lösung.
Diese Analyse bietet einen Einblick in die tieferen Schichten und Bedeutungen des Märchens, die über die einfache Erzählung hinausgehen. Bechstein, ein Sammler und Bearbeiter deutscher Volksmärchen, hat oft Geschichten mit Moral und Lehren für seine Leserschaft verbunden, was auch hier ersichtlich ist.
Das Märchen „Die Nonne, der Bergmann und der Schmied“ von Ludwig Bechstein bietet eine interessante Grundlage für unterschiedliche Interpretationen. Hier sind einige mögliche Ansätze, um das Märchen zu verstehen:
Moralische und gesellschaftliche Lehren: Jede Figur im Märchen könnte eine bestimmte gesellschaftliche Rolle oder Tugend symbolisieren. Die Nonne könnte Güte und Barmherzigkeit repräsentieren, der Bergmann die Arbeit und der Schmied die Stärke und Entschlossenheit. Die Handlung vermittelt möglicherweise die Lehre, dass Mut und Entschlossenheit (wie sie der Schmied zeigt) notwendig sind, um Herausforderungen zu überwinden.
Märchenhafte Erlösungsmetaphern: Die Befreiung der Königstöchter und des Königssohns kann als Metapher für die Überwindung von Hindernissen oder persönlichen Prüfungen gesehen werden. Der dreiköpfige Zustand des Männchens und die darauffolgende Erlösung seiner und der Königstöchter weisen darauf hin, dass manchmal ein Prozess oder eine Transformation notwendig ist, um Freiheit oder Erlösung zu erlangen.
Motiv der Gemeinschaft und Zusammenarbeit: Das Märchen zeigt, wie die verschiedenen Charaktere trotz ihrer Unterschiede zusammenarbeiten müssen, um Erfolg zu haben. Zu Beginn handeln die Charaktere getrennt und scheitern, aber letztendlich ist es ihre Zusammenarbeit, die zur Lösung der Situation führt. Diese Erzählweise betont den Wert der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Handelns.
Kritik an traditionellen Geschlechterrollen: Eine moderne Interpretation könnte darin bestehen, dass die Nonne, der Bergmann und der Schmied aus konventionellen Rollen ausbrechen. Während die Nonne und der Bergmann durch ein Männchen zurückgeworfen werden, das ihre traditionellen Aufgaben unterbricht, ist es der Schmied, der durch unkonventionelle Handlung die Lage entschärft. Dies könnte als Kritik an traditionellen Erwartungen an Geschlechterrollen gelesen werden.
Symbolismus und Inhalte: Der Wald könnte für die menschliche Seele oder das Unbewusste stehen, in dem die Charaktere verloren sind und sich selbst finden müssen. Das Schloss könnte als Sinnbild für die innere Welt oder verborgene Erkenntnisse interpretiert werden, die es zu entdecken gilt. Das Männchen und der Hund können als innere Hindernisse oder Herausforderungen gesehen werden, die beachtet und überwunden werden müssen.
Diese Interpretationen zeigen auf, dass das Märchen mehr als nur eine einfache Erzählung ist; es bietet Einblicke in menschliches Verhalten, gesellschaftliche Strukturen und psychologische Prozesse. Wie bei vielen Märchen liegt die Bedeutung oft in den Symbolen und der Art und Weise, wie die Charaktere mit der Welt interagieren.
„Linguistische Analyse des Märchens ‚Die Nonne, der Bergmann und der Schmied‘ von Ludwig Bechstein“
Das Märchen von Ludwig Bechstein, „Die Nonne, der Bergmann und der Schmied“, bietet eine reiche Grundlage für eine linguistische Analyse.
Einleitung
Die Anfangssituation ist typisch für ein Märchen: Drei Charaktere ziehen gemeinsam umher und geraten in eine Notlage.
Wiederholung und Eskalation: Die Struktur des Märchens folgt einem Muster von Wiederholung und Eskalation. Dreimal begegnen die Charaktere dem grauen Männchen, wobei sich die Situation bei jedem Zusammentreffen zuspitzt – vom Ein-Kopf-Männchen bis zum Drei-Kopf-Männchen.
Auflösung: Die Lösung erfolgt durch Mut und Geschick des Schmieds, der entscheidende Wendepunkt im Märchen, gefolgt von der Rettung und einer glücklichen Auflösung mit Belohnung und Hochzeiten.
Sprache und Stil
Formelhafte Sprache: Typisch für Märchen ist die formelhafte Sprache, z.
B. die wiederholte Klage des Männchens: „O wie friert/hungrig mich!“ Diese Formeln fördern das Einprägen der Geschichte und schaffen eine gewisse Rhythmisierung.
Direkte Rede: Der Gebrauch direkter Rede verleiht dem Märchen Lebendigkeit und Nähe.
Symbolik und Metaphern
Drei-Kopf-Männchen: Die wachsende Anzahl an Köpfen symbolisiert die zunehmende Bedrohung und die Herausforderung, mit der die Protagonisten konfrontiert sind.
Eiserne Tür und Gewölbe: Symbolisieren Hindernisse, die überwunden werden müssen, um zum Ziel (Erlösung der Königstöchter) zu gelangen.
Märchenmotive
Drei Prüfungen oder Begegnungen: Ein häufiges Motiv in Märchen, das hier durch die drei Begegnungen mit dem Männchen dargestellt wird.
Verwunschene Königskinder: Die Erlösung von Zauberbann und die Belohnung der Helden durch Ehe oder materiellen Reichtum ist ein klassisches Märchenthema.
Charakteranalyse
Die Nonne, der Bergmann und der Schmied: Diese drei Figuren verkörpern unterschiedliche gesellschaftliche Rollen und Fähigkeiten. Der Schmied, mit seiner körperlichen Stärke und seinem Mut, wird zum Helden.
Graues Männchen und verwunschene Charaktere: Diese Figuren dienen als narrative Elemente, die Herausforderung und Veränderung in die Geschichte bringen.
Moral und Botschaft: Das Märchen vermittelt Werte wie Mut, Zusammenhalt und die Überwindung von Widrigkeiten. Durch die Errettung und Belohnung der Protagonisten wird die moralische Lektion verstärkt.
Durch diese Aspekte bietet das Märchen eine vielfältige Grundlage für eine linguistische und inhaltliche Auseinandersetzung, die sowohl auf die Struktur als auch auf die stilistischen und inhaltlichen Merkmale des Textes eingeht.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
---|---|
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 77.7 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 35 |
Flesch-Reading-Ease Index | 65.4 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 7.8 |
Gunning Fog Index | 9 |
Coleman–Liau Index | 12 |
SMOG Index | 10.1 |
Automated Readability Index | 8.4 |
Zeichen-Anzahl | 1.242 |
Anzahl der Buchstaben | 992 |
Anzahl der Sätze | 14 |
Wortanzahl | 209 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 14,93 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 42 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 20.1% |
Silben gesamt | 312 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,49 |
Wörter mit drei Silben | 20 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 9.6% |