Vorlesezeit für Kinder: 13 min
Im Garten standen alle Apfelbäume in Blüte. Sie hatten sich beeilt, um Blüten zu bekommen, ehe die grünen Blätter kamen. Im Hofe waren alle Enten draußen und die Katze auch. Sie schleckte wohl wirklich den Sonnenschein! Sie schleckte ihn von ihrer eigenen Pfote. Und sah man übers Feld hin, da stand das Korn so herrlich und grün, und es war ein Zwitschern und Quinquilieren bei all den kleinen Vögeln, als ob ein großes Fest sei.
Und das konnte man wohl auch sagen, denn es war Sonntag. Die Glocken läuteten, und die Leute gingen in ihren schönsten Kleidern zur Kirche und alle sahen fröhlich aus. Ja, an jedem Ding war auch etwas Erfreuliches und es war ein Tag, so warm und hell, dass man wohl sagen konnte: „Der liebe Gott ist wahrhaftig grenzenlos gut gegen uns Menschen.“
Aber in der Kirche drinnen stand der Pfarrer auf der Kanzel und sprach so laut und böse. Er sagte, dass die Menschen so gottlos seien und dass Gott sie dafür strafen würde, und wenn sie gestorben seien, kämen die Bösen hinab in die Hölle, wo sie ewig brennen müssten. Und er sagte, dass der nagende Wurm in ihnen nie sterben würde, nie würden die Feuer dort unten gelöscht werden und niemals fänden sie Rast oder Ruh. Das war gar gräßlich anzuhören und er war seiner Sache so gewiss.
Er beschrieb ihnen die Hölle wie eine stinkende Höhle, in der der Schmutz der ganzen Welt zusammenflöße, da wehte kein Lüftlein, nur die heiße Schwefelflamme, da wäre kein Boden, sie sänken und sänken, tief in ein ewiges Schweigen. Allein schon das Hören war schauerlich, aber dem Pfarrer kam alles dies überzeugend aus tiefstem Herzensgrund, und alle Leute in der Kirche entsetzten sich. Aber draußen sangen all die kleinen Vögel so fröhlich, und die Sonne schien so warm, es war, als ob jede kleine Blume sagen wollte: Gott ist so unendlich gut gegen uns aller – ja, draußen war es gar nicht so, wie es der Pfarrer gepredigt hatte.
Am Abend zur Schlafenszeit sah der Pfarrer seine Frau still und gedankenvoll dasitzen. „Was fehlt Dir?“ fragte er sie. „Ja, was fehlt mir eigentlich,“ sagte sie, „mir fehlt, dass ich nicht recht meine Gedanken sammeln kann, dass es mir nicht recht stimmen will, was Du sagst, dass es so viele Gottlose gäbe, die ewig brennen müssten, ewig – ach, wie lange. Ich bin nur ein sündiger Mensch, aber ich könnte es nicht über mein Herz bringen, selbst den schlimmsten Sünder ewig brennen zu lassen. Wie wollte es da der liebe Gott können, er, der so unendlich gut ist, er, der weiß, wie das Böse von außen und innen an uns herantritt. Nein, ich kann es mir nicht denken, obwohl Du es sagst.“
Es war Herbst. Das Laub fiel von den Bäumen. Der ernste, strenge Pfarrer saß am Bette einer Sterbenden. Eine fromme Gläubige schloss ihre Augen. Es war die Pfarrerin. „Findet jemand Frieden im Grabe und Gnade bei Gott, so bist Du es!“ sagte der Pfarrer, und er faltete ihre Hände und sprach ein Gebet über die Tote. Sie wurde zu Grabe getragen. Zwei schwere Tränen rollten über die Wangen des ernsten Mannes nieder. Im Pfarrhofe war es stille und leer, der Sonnenschein darin war erloschen, sie war ja fortgegangen.
Es war Nacht. Ein kalter Wind blies über das Haupt des Pfarrers. Er schlug die Augen auf und es war, als ob der Mond in seine Stube hereinscheine, aber der Mond schien nicht. Eine Gestalt war es, die vor seinem Bette stand. Er sah den Geist seiner gestorbenen Frau. Sie blickte ihn so tief betrübt an, es war, als wolle sie etwas sagen. Und der Mann richtete sich halb empor und streckte die Arme nach ihr aus. „Auch Dir ist nicht die ewige Ruhe vergönnt? Du leidest? Du, die Beste, die Frömmeste?“
Und die Tote neigte ihr Haupt zu einem ja und legte die Hand auf die Brust. „Kann ich Dir die Ruhe im Grabe geben?“ – „Ja“ tönte es. „Und wie?“ – „Gib mir ein Haar, nur ein einziges Haar vom Haupte eines Sünders, für den das Feuer nie erlöschen soll, des Sünders, den Gott in die Hölle zu ewiger Pein hinabstoßen will.“
„Ja, so leicht konntest nur Du erlöst werden, Du Reine, Du Fromme“ sagte er. „So folge mir!“ sagte die Tote. „So ist es uns vergönnt. An meiner Seite schwebst Du, wohin Deine Gedanken es wollen. Unsichibar für die Menschen stehen wir vor den heimlichsten Kammern ihres Herzens, aber mit sicherer Hand musst Du auf den zu ewiger Qual Verdammten zeigen, und vor dem Hahnenschrei muss er gefunden sein.“
Und hurtig, mit Gedankenschnelle, waren sie in der grollen Stadt. Von den Wänden der Häuser leuchteten mit feurigen Buchstaben die Namen der Todsünden: Hochmut, Geiz, Trunksucht, Wollust, kurz, der ganze siebenfarbige Bogen der Sünde. „Ja, dort drinnen, wie ich es glaube, wie ich es wusste,“ sagte der Pfarrer, „hausen die dem ewigen Feuer Geweihten.“ Und sie standen vor einem prächtig erleuchteten Portal, wo breite Treppen mit Teppichen und Blumen geschmückt waren und durch die festlichen Säle Ballmusik erklang. Der Schweizer stand davor in Sammet und Seide mit einem großen silberbeschlagenen Stock.
„Unser Ball kann sich mit dem des Königs wohl messen!“ sagte er und wandte sich dem Straßendpöbel zu. Von Kopf zu Fuß leuchtete ein Gedanke aus ihm: „Elendes Pack, das hier zur Pforte hereingafft! Gegen mich seid Ihr alle Kanaillen.“ – „Hochmut“ sagte die Tote, „siehst Du ihn?“ – „Ihn,“ wiederholte der Pfarrer, „ja aber er ist ein Tropf, ein Narr nur, er wird nicht zu ewigem Feuer und ewiger Pein verdammt werden.“ – „Ein Narr nur“ erklang es durch das ganze Haus des Hochmuts, das waren sie alle darin.
Und sie flogen in die nackten vier Wände des Geizigen hinein, wo dürr und klappernd vor Kälte, hungrig und durstig, sich ein Greis mit allen seinen Gedanken an sein Gold klammerte. Sie sahen, wie er im Fieber von dem elenden Lager sprang und einen losen Stein aus der Mauer nahm. Da lagen Goldstücke in einem Strumpfe. Er tastete sein lumpiges Hemd ab, in das Goldstücke genäht waren, und die feuchten Finger zitterten.
„Er ist krank. Das ist Wahnwitz, ein freudloser Wahnwitz, umringt von Angst und bösen Träumen.“ Und sie entfernten sich hastig und standen vor der Pritsche der Verbrecher, auf der sie in langer Reihe, Seite an Seite, schliefen. Wie ein wildes Tier fuhr einer aus dem Schlafe empor, einen hässlichen Schrei ausstoßend. Er schlug mit seinen spitzen Ellenbogen nach seinem Kameraden. Der wandte sich schläfrig um:
„Halts Maul, Du Vieh, und schlaf – das ist jede Nacht!“ – „Jede Nacht“ wiederholte der andere, „ja jede Nacht kommt er und heult und würgt mich. In der Hitze habe ich manches getan, der zähe Zorn ist mir angeboren, der hat mich nun das zweite Mal hier herein gebracht. Aber habe ich schlecht getan, so habe ich nun meine Strafe. Nur eins habe ich nicht bekannt. Als ich das letzte Mal hier heraus kam und am Hofe meines letzten Herrn vorbeikam, kochte es in mir empor – ich strich ein Schwefelholz an der Mauer an, dort wo das Strohdach anstößt. Alles brannte. Die Hitze fiel darüber her, wie sie über mich herfällt. Ich half das Vieh und die Bewohner retten. Nichts Lebendes verbrannte außer einer Schar Tauben, die ins Feuer hineinflogen, und dann der Kettenhund.
An den hatte ich nicht gedacht. Man konnte ihn heulen hören – und dies Heulen höre ich noch immer wenn ich schlafen will. Und kommt endlich der Schlaf, dann kommt auch der Hund, groß und zottig. Er legt sich über mich, heult, und drückt und erwürgt mich. So hör doch, was ich erzähle! Schnarchen kannst Du, schnarchen die ganze Nacht, und ich nicht eine kurze Viertelstunde.“ Und das Blut stieg dem Hitzigen zu Kopfe, er warf sich über den Kameraden und schlug ihn mit der geballten Faust ins Gesicht.
„Der wütende Mads ist wieder verrückt geworden.“ rief es ringsumher, und die anderen Verbrecher fassten ihn, rangen mit ihm und bogen ihn krumm, dass der Kopf zwischen den Beinen saß. Dort banden sie ihn fest. Das Blut sprang ihm fast aus den Augen und allen Poren. „Ihr tötet ihn“ rief der Pfarrer, „den Unglücklichen.“ Und indem er abwehrend die Hand über den Sünder hinstreckte, der schon hier zu hart leiden musste, es wechselte die Szene. Sie flogen durch reiche Säle und durch ärmliche Stuben; Wollust, Mißgunst, alle Todsünden schritten an ihnen vorbei. Ein Engel des Gerichts verlas ihre Sünden und ihre Verantwortung.
Die war zwar gering vor Gott, aber Gott liest in den Herzen, er kennt alles, das Böse das von außen und das, was von innen kommt, er, der Gnädige und Alliebende. Des Pfarrers Hand zitterte, er wagte sie nicht auszustrecken, nicht ein Haar von des Sünders Haupt zu reißen. Und die Tränen strömten aus seinen Augen wie Wasser der Gnade und Liebe, die der Hölle ewiges Feuer löschen. Da krähte der Hahn. „Erbarmender Gott. Gib ihr die Ruhe im Grabe, die ich ihr nicht einzulösen vermochte.“
„Die habe ich nun,“ sagte die Tote, „es war Dein hartes Wort, dein finsterer Menschenglaube von Gott und seinen Geschöpfen, der mich zu Dir trieb. Erkenne die Menschen, in welchen selbst bei den Bösen ein Teil von Gott ist, ein Teil, der siegen und die Feuer der Hölle löschen wird.“ Und ein Kuss wurde auf des Pfarrers Mund gedrückt, es leuchtete hell um ihn; Gottes lichte Sonne schien in die Kammer, wo seine Frau, lebendig, sanft und liebevoll, ihn aus einem Traume weckte, der ihm von Gott gesandt war.

Hintergründe zum Märchen „Eine Geschichte“
„Eine Geschichte“ ist ein Märchen des dänischen Autors Hans Christian Andersen, die er im 19. Jahrhundert schrieb. Seine Geschichten wurden seitdem in viele Sprachen übersetzt und auf der ganzen Welt gelesen. Das Märchen „Eine Geschichte“ wurde ursprünglich im Jahr 1852 veröffentlicht. Obwohl es nicht so bekannt ist wie einige von Andersens anderen Werken, behandelt es dennoch wichtige Themen wie Liebe, Vergebung und die Güte Gottes.
Der Hintergrund dieses Märchens ist geprägt von der christlichen Moral und dem religiösen Glauben des 19. Jahrhunderts, insbesondere in Bezug auf das Konzept der Hölle und der ewigen Bestrafung für Sünder. In dieser Zeit wurden diese Themen oft in Predigten und religiösen Schriften diskutiert. Andersen verwendet diese religiösen Motive, um eine Geschichte zu erzählen, die letztendlich eine Botschaft der Hoffnung und der göttlichen Gnade vermittelt.
Das Märchen stellt auch eine Kritik an der damals verbreiteten strengen und unnachgiebigen Sichtweise der Kirche und ihrer Vertreter dar. Durch die Erfahrungen des Pfarrers in der Geschichte hinterfragt Andersen die Vorstellung von ewiger Bestrafung und betont stattdessen die Liebe, die Vergebung und die Güte Gottes gegenüber allen Menschen, unabhängig von ihren Fehlern und Sünden.
Insgesamt bietet „Eine Geschichte“ eine wichtige Lektion über das Verständnis und die Akzeptanz der Schwächen und Fehler anderer Menschen und über die Notwendigkeit, Liebe und Vergebung in unserem Leben zu praktizieren. Diese Themen sind auch heute noch relevant und machen das Märchen zu einer zeitlosen Geschichte, die Generationen von Lesern anspricht.
Interpretationen zum Märchen „Eine Geschichte“
„Eine Geschichte“ von Hans Christian Andersen bietet verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, und hier sind einige der gängigsten:
Göttliche Liebe und Vergebung: Eine zentrale Botschaft des Märchens ist die Bedeutung der göttlichen Liebe und Vergebung. In der Geschichte wird der Pfarrer zunächst mit der grausamen und unnachgiebigen Sicht der Hölle und der ewigen Bestrafung konfrontiert. Doch durch seine Reise und seine Begegnungen lernt er, dass Gottes Liebe und Gnade mächtiger sind als die Vorstellung von ewiger Bestrafung. Diese Interpretation betont die Barmherzigkeit Gottes gegenüber allen Menschen, unabhängig von ihren Sünden und Fehlern.
Selbstreflexion und Reue: Der Pfarrer in „Eine Geschichte“ durchläuft einen tiefgreifenden Wandlungsprozess. Er beginnt als stolzer und selbstgerechter Mann, der glaubt, dass Sünder für ihre Vergehen bestraft werden sollten. Doch als er seine eigene Sünde erkennt und sich ihrer bewusst wird, entwickelt er Reue und Mitgefühl für andere Menschen. Diese Interpretation hebt die Bedeutung der Selbstreflexion und der Bereitschaft hervor, unsere eigenen Fehler und Schwächen zu erkennen, um ein besseres Verständnis und Mitgefühl für die menschliche Natur zu entwickeln.
Kritik an der starren Moralvorstellung: Die Geschichte hinterfragt auch die damals verbreitete strenge Moralvorstellung und die Rolle der Kirche und ihrer Vertreter. Durch die Erfahrungen des Pfarrers zeigt Andersen, dass eine unnachgiebige und unbarmherzige Haltung gegenüber anderen Menschen in Widerspruch zur christlichen Botschaft der Liebe und Vergebung steht. Diese Interpretation legt nahe, dass wir offen und flexibel sein sollten, wenn es um unsere moralischen und ethischen Ansichten geht, um ein Leben im Einklang mit den wahren Werten des Christentums zu führen.
Die Macht der Geschichten: Schließlich kann „Eine Geschichte“ auch als Allegorie für die Macht und Bedeutung von Geschichten und Erzählungen gesehen werden. Der Pfarrer lernt durch seine Reise, dass Geschichten die Fähigkeit haben, Menschen zu verändern, indem sie ihnen neue Perspektiven aufzeigen und sie zum Nachdenken über ihre eigenen Überzeugungen und Handlungen anregen. In dieser Interpretation wird die transformative Kraft der Literatur und ihre Fähigkeit, das menschliche Herz und den Geist zu berühren, betont.
Diese verschiedenen Interpretationen zeigen die Vielschichtigkeit von Hans Christian Andersens „Eine Geschichte“ und veranschaulichen, wie das Märchen auch heute noch Leser dazu anregt, über wichtige Themen wie Liebe, Vergebung und Mitgefühl nachzudenken.
Zusammenfassung der Handlung
Im Märchen „Eine Geschichte“ von Hans Christian Andersen predigt ein Pfarrer über die Sünde und die Hölle. Als seine fromme Frau stirbt, erscheint ihr Geist und bittet ihn, ihr ein Haar eines Sünders zu bringen, der ewig in der Hölle brennen soll, damit sie Ruhe im Grab finden kann. Zusammen besuchen sie Orte, an denen Menschen verschiedenen Todsünden frönen.
Der Pfarrer zögert jedoch, ein Haar von diesen Sündern zu nehmen, da er erkennt, dass sie alle leiden und nicht unbedingt ewig in der Hölle bleiben sollten. Schließlich bittet der Pfarrer Gott um Gnade für seine Frau und lernt eine Lektion über Vergebung und Mitgefühl. Die Geschichte endet damit, dass die Frau ihren Mann aus einem göttlichen Traum weckt, der ihm eine neue Perspektive auf das menschliche Leiden und Gottes Gnade vermittelt.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
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Übersetzungen | DE, EN, DA, ES |
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 81.4 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 31.3 |
Flesch-Reading-Ease Index | 70.3 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 7 |
Gunning Fog Index | 7.7 |
Coleman–Liau Index | 11.3 |
SMOG Index | 9.3 |
Automated Readability Index | 7.4 |
Zeichen-Anzahl | 9.235 |
Anzahl der Buchstaben | 7.249 |
Anzahl der Sätze | 110 |
Wortanzahl | 1.573 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 14,30 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 267 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 17% |
Silben gesamt | 2.268 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,44 |
Wörter mit drei Silben | 124 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 7.9% |