Vorlesezeit für Kinder: 9 min
Es waren einmal zwei arme Geschwister, ein Knabe und ein Mädchen, das Mädchen hieß Margarete, der Knabe hieß Hans. Ihre Eltern waren gestorben, hatten ihnen auch gar kein Eigentum hinterlassen, daher sie ausgehen mussten, um durch Betteln sich fortzubringen. Zur Arbeit waren beide noch zu schwach und klein; denn Hänschen zählte erst zwölf Jahre und Gretchen war noch jünger. Des Abends gingen sie vors erste beste Haus, klopften an und baten um ein Nachtquartier, und vielmal waren sie schon von guten mildtätigen Menschen aufgenommen, gespeist und getränkt worden; auch hatte mancher und manche Barmherzige ihnen ein Kleidungsstückchen zugeworfen.
So kamen sie einmal des Abends vor ein Häuschen, welches einzeln stand; da klopften sie ans Fenster, und als gleich darauf eine alte Frau heraussah, fragten sie diese, ob sie hier nicht über Nacht bleiben dürften? Die Antwort war: »Meinetwegen, kommt nur herein!« Aber wie sie eintraten, sprach die Frau: »Ich will euch wohl über Nacht behalten, aber wenn es mein Mann gewahr wird, so seid ihr verloren; denn er isst gern einen jungen Menschenbraten, daher er alle Kinder schlachtet, die ihm vor die Hand kommen!«
Da wurde den Kindern sehr angst; doch konnten sie nunmehr nicht weiter, es war schon ganz dunkle Nacht geworden. So ließen sie sich gutwillig von der Frau in einem Fass verstecken und verhielten sich ruhig. Einschlafen konnten sie aber lange nicht, zumal da sie nach einer Stunde die schweren Tritte eines Mannes vernahmen, der wahrscheinlich der Menschenfresser war. Des wurden sie bald gewiss, denn jetzt fing er an mit brüllender Stimme auf seine Frau zu zanken, dass sie keinen Menschenbraten für ihn zugerichtet. Am Morgen verließ er das Haus wieder und tappte so laut, dass die Kinder, die endlich doch eingeschlummert waren, darüber erwachten.
Als sie von der Frau etwas zu frühstücken bekommen hatten, sagte diese: »Ihr Kinder müsst nun auch etwas tun, da habt ihr zwei Besen, geht oben hinauf und kehrt mir meine Stuben aus, deren sind zwölf, aber ihr kehret davon nur elf, die zwölfte dürft ihr um Himmelswillen nicht aufmachen. Ich will derzeit einen Ausgang tun. Seid fleißig, dass ihr fertig seid, wenn ich wieder komme.«
Die Kinder kehrten sehr emsig, und bald waren sie fertig. Nun mochte Gretchen doch gar zu gerne wissen, was in der zwölften Stube wäre, das sie nicht sehen sollten, weil ihnen verboten war, die Stube zu öffnen. Sie guckte ein wenig durchs Schlüsselloch und sah da einen herrlichen, kleinen, goldenen Wagen, mit einem goldenen Rehbock bespannt. Geschwind rief sie Hänschen herbei, dass er auch hineingucken sollte. Und als sie sich erst tüchtig umgesehen, ob die Frau nicht heimkehre, und da von dieser nichts zu sehen war, schlossen sie schnell die Türe auf, zogen den Wagen samt Rehbock heraus, setzten drunten sich hinein in den Wagen und fuhren auf und davon. Aber nicht lange, so sahen sie von weitem die alte Frau und auch den Menschenfresser sich entgegen kommen, gerade des Wegs, den sie mit dem geraubten Wagen eingeschlagen hatten. Hänslein sprach: »Ach, Schwester, was machen wir? Wenn uns die beiden Alten entdecken, sind wir verloren.«
»Still!« sprach Gretchen, »ich weiß ein kräftiges Zaubersprüchlein, welches ich noch von unserer Großmutter gelernt habe:Rosenrote Rose sticht;
Siehst du mich, so sieh mich nicht!«
Und alsbald waren sie verwandelt in einen Rosenstrauch. Gretchen wurde zur Rose, Hänslein zu Dornen, der Rehbock zum Stiele, der Wagen zu Blättern.
Nun kamen beide, der Menschenfresser und seine Frau, daher gegangen und letztere wollte sich die schöne Rose abbrechen, aber sie stach sich so sehr, dass ihre Finger bluteten und sie ärgerlich davon ging. Wie die Alten fort waren, machten sich die Kinder eilig auf und fuhren weiter und kamen bald an einen Backofen, der voll Brot stund. Da hörten sie aus demselben eine hohle Stimme rufen: »Rückt mir mein Brot, rückt mir mein Brot.« Schnell rückte Gretchen das Brot und tat es in ihren Wagen, worauf sie weiter fuhren. Da kamen sie an einen großen Birnbaum, der voll reifer schöner Früchte hing, aus diesem tönte es wieder: »Schüttelt mir meine Birnen, schüttelt mir meine Birnen!« Gretchen schüttelte sogleich, und Hänschen half gar fleißig auflesen und die Birnen in den goldenen Wagen schütten. Und wieder kamen sie an einen Weinstock, der rief mit angenehmer Stimme: »Pflückt mir meine Trauben, pflückt mir meine Trauben!« Gretchen pflückte auch diese und packte sie in ihren Wagen.
Unterdessen aber waren der Menschenfresser und seine Frau daheim angelangt und hatten mit Ingrimm wahrgenommen, dass die Kinder ihren goldenen Wagen samt Rehbock gestohlen, gerade wie diese beiden ebenfalls vor langen Jahren Wagen und Rehbock gestohlen und noch dazu bei dem Diebstahl auch einen Mord begangen hatten, nämlich den rechtmäßigen Eigentümer erschlagen. Der mit dem Rehbock bespannte Wagen war nicht nur an und für sich von großem Wert, sondern er besaß auch noch die vortreffliche Eigenschaft, dass, wo er hinkam, von allen Seiten Gaben gespendet wurden, von Baum und Beerstrauch, von Backofen und Weinstock. So hatten denn die Leute, der Menschenfresser und seine Frau, lange Jahre den Wagen, wenn auch auf unrechtmäßige Weise, besessen, hatten sich gute Esswaren spenden lassen und dabei herrlich und in Freuden gelebt. Da sie nun sahen, dass sie ihres Wagens beraubt waren, machten sie sich flugs auf, den Kindern nachzueilen und ihnen die köstliche Beute wieder abzujagen. Dabei wässerte dem Menschfresser schon der Mund nach Menschenbraten; denn die Kinder wollte er sogleich fangen und schlachten. Mit weiten Schritten eilten die beiden Alten den Kindern nach und wurden dieselben bald von ferne ansichtig, weil sie vorausfuhren. Die Kinder kamen jetzt an einen großen Teich und konnten nicht weiter, auch war weder eine Fähre noch eine Brücke da, dass sie hinüber hätten flüchten können. Nur viele Enten waren darauf zu sehen, die lustig umherschwammen. Gretchen lockte diese ans Ufer, warf ihnen Futter hin und sprach:»Ihr Entchen, ihr Entchen, schwimmt zusammen,
Macht mir ein Brückchen, dass ich hinüber kann kommen!«
Da schwammen die Enten einträchtiglich zusammen, bildeten eine Brücke, und die Kinder samt Rehbock und Wagen kamen glücklich ans andere Ufer. Aber flugs hinterdrein kam auch der Menschenfresser und brummte mit hässlicher Stimme:»Ihr Entchen, ihr Entchen, schwimmt zusammen,
Macht mir ein Brückchen, dass ich hinüber kann kommen!«
Schnell schwammen die Entchen zusammen und trugen die beiden Alten hinüber – meint ihr? nein! in der Mitte des Teiches, da das Wasser am tiefsten war, schwammen die Entchen auseinander, und der böse Menschenfresser nebst seiner Alten plumpsten in die Tiefe und kamen um. Und Hänschen und Gretchen wurden sehr wohlhabende Leute, aber sie spendeten auch von ihrem Segen den Armen viel und taten viel Gutes, weil sie immer daran dachten, wie bitter es gewesen, da sie noch arm waren und betteln gehen mussten.

Hintergründe
Interpretationen
Analyse
„Der goldne Rehbock“ von Ludwig Bechstein ist ein klassisches deutsches Märchen, das Elemente von Abenteuer, Magie und Moral vereint.
Thematik und Moral: Das Märchen behandelt Themen wie Armut, Abenteuerlust und die Belohnung von Mut und Güte. Die Hauptfiguren, Hänschen und Gretchen, sind arme Waisenkinder, die durch ihre kluge und mutige Art die Herausforderungen ihres Lebens meistern. Das Märchen lehrt uns, dass gute Taten und ein reines Herz letztendlich belohnt werden.
Bechsteins Stil: Ludwig Bechstein war ein bekannter Sammler und Herausgeber von Märchen und Sagen. Seine Geschichten zeichnen sich durch detaillierte Beschreibungen, komplexe Handlungen und oft auch moralische Lehren aus. Er hatte eine Vorliebe für magische Elemente, welche die Fantasie anregen und den Geschichten eine zusätzliche Dimension verleihen.
Vergleich zu Grimm’s Märchen: Bechsteins Märchen wurden oft mit denen der Brüder Grimm verglichen, da beide dieselbe Tradition des Geschichtenerzählens fortführen. Bechsteins Märchen sind tendenziell weniger düster und enthalten häufig eine deutlichere moralische Botschaft.
Symbolik: Der goldene Rehbock symbolisiert Reichtum und Glück, das magisch erworben werden kann, aber auch Verantwortung mit sich bringt. Die Kinder erleben, dass Besitz alleine nicht ausreichend ist, um glücklich zu sein, sondern dass es auf das Teilen und die Güte gegenüber anderen ankommt.
Rolle der Gegenspieler: Der Menschenfresser und seine Frau sind typische Antagonisten, die die Protagonisten bedrohen und eine Gefahr darstellen, die es zu überwinden gilt. Ihre Gier und Bosheit stehen im krassen Gegensatz zur Unschuld und Nächstenliebe der Kinder.
Magische Hilfsmittel: Die Verwandlung durch das Zaubersprüchlein und die Hilfe der Enten sind typische Märchenelemente, die den Protagonisten in ausweglosen Situationen zur Rettung verhelfen. Diese magischen Hilfen sind als Belohnung für das gute Herz und den mutigen Geist der Kinder zu verstehen.
Insgesamt ist „Der goldne Rehbock“ ein lehrreiches und unterhaltsames Märchen, das sowohl Kinder als auch Erwachsene anspricht. Es vermittelt wichtige Werte wie Mut, Güte und Großzügigkeit und zeigt, dass das Gute letztlich über das Böse triumphiert.
„Der goldne Rehbock“ von Ludwig Bechstein ist ein faszinierendes Märchen, das verschiedene Themen wie Armut, Güte, List und Gerechtigkeit anspricht.
Es bietet zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten
Gegensatz von Gut und Böse: Im Märchen stehen die Geschwister Hänschen und Gretchen für das Gute. Obwohl sie arm sind, bleiben sie moralisch integer und handeln aus einer Art kindlicher Unschuld und Neugier. Im Gegensatz dazu stehen der Menschenfresser und seine Frau, die das Böse repräsentieren. Ihre Gier und Bosheit führen schließlich zu ihrem Untergang.
Thema der Gerechtigkeit: Das Märchen zeigt, dass unrechtmäßig erworbenes Gut kein Glück bringt. Der Menschenfresser und seine Frau hatten den goldenen Wagen durch einen Mord erlangt, was sie letztlich ihren bösen Ende zuführt. Die Geschwister hingegen, die zwar den Wagen stehlen, ihn aber nie zu eigennützigen Zwecken benutzen, werden belohnt.
Hilfsbereitschaft und Dankbarkeit: Die Handlung des Märchens betont, wie wichtig es ist, anderen zu helfen. Die Geschwister erhalten Unterstützung von der magischen Umwelt – die Rosen, der Birnbaum, der Weinstock und die Enten –, weil sie den Bedürfnissen der Natur antworten. Dies spiegelt eine gegenseitige Unterstützung wider. Am Ende, als sie reich werden, zeigen sie Dankbarkeit, indem sie den Armen helfen.
Kindliche Neugier und Ungehorsam: Gretchen öffnet trotz des Verbots die zwölfte Kammer. Diese Neugier ist ein klassisches Motiv in Märchen, das häufig zu Problemen führt, die jedoch auch die Handlung vorantreiben. In diesem Fall führt die Neugier zur Entdeckung des magischen Wagens, der die Kinder letztlich rettet.
Motiv der Verwandlung: Die Verwandlung in einen Rosenstrauch dient als Schutzmechanismus gegen das Böse. Es zeigt die Vorteile von Wissen und Magie, die von Generation zu Generation weitergegeben werden (wie das Sprüchlein von der Großmutter), und verdeutlicht die Notwendigkeit von Anpassung und Cleverness in kritischen Situationen.
Insgesamt lässt sich „Der goldne Rehbock“ als Erzählung über die Reinheit des Herzens und den letztendlichen Sieg des Guten über das Böse lesen. Die Geschwister erhalten eine Belohnung, die sie mit anderen teilen, was die positive Botschaft von Altruismus und Gemeinschaft verstärkt.
Die linguistische Analyse eines Märchens wie „Der goldne Rehbock“ von Ludwig Bechstein umfasst mehrere Aspekte:
Struktur und Form: Das Märchen folgt der klassischen Struktur von Märchen mit einer Einleitung (Vorstellung der Charaktere und ihrer Notlage), einem Hauptteil (Abenteuer der Geschwister) und einem Schluss (Bewältigung der Krise und Erreichen eines glücklichen Endes). Diese Struktur spiegelt die typischen Elemente der Volksmärchen wider.
Sprache und Stil: Bechstein verwendet eine einfache, klare Sprache, die typisch für Märchen ist und auf mündliche Erzählsituationen abzielt. Der Stil ist beschreibend und enthält viele wörtliche Reden, was die Geschichte lebendiger und direkter macht. Die Verwendung von Zaubersprüchen und repetitiven Strukturen („Rosenrote Rose sticht; Siehst du mich, so sieh mich nicht!“ oder „Ihr Entchen, ihr Entchen, schwimmt zusammen“) sind ebenfalls charakteristische Merkmale.
Themen und Motive: Das Märchen enthält klassische Themen wie Armut, das Böse in Form des Menschenfressers, magische Elemente (der goldene Rehbock und Wagen, der Zauberspruch), und die Überwindung von Schwierigkeiten. Moralische Themen wie Güte und Großzügigkeit sind ebenfalls prominent. Die Motive der Reise und der Prüfungen, die die Kinder bestehen müssen, sind gängige Märchenmotive.
Charaktere: Die Charaktere sind archetypisch – die armen, aber weisen und findigen Geschwister und der böse Menschenfresser. Die Geschwister repräsentieren Unschuld und Klugheit, während der Menschenfresser das Bedrohliche und Unmoralische verkörpert.
Symbolik und Metaphorik: Der goldene Rehbock und der Wagen symbolisieren Reichtum und Rettung. Der Menschenfresser und seine Frau stehen symbolisch für die Bedrohungen und Herausforderungen, denen die Protagonisten gegenüberstehen. Die Verwandlung in einen Rosenstrauch ist metaphorisch für Schutz und Unsichtbarkeit.
Funktion der magischen Elemente: Magische Elemente wie der Wagen, der Brot, Birnen und Trauben sammelt, spielen eine zentrale Rolle, um die Handlung voranzutreiben und den Kindern zur Flucht zu verhelfen. Diese Elemente unterstreichen die magische Logik innerhalb der Märchenwelt, wo Wunder und Zauberei das Schicksal der Charaktere beeinflussen.
Insgesamt reflektiert „Der goldne Rehbock“ viele traditionelle Merkmale von Märchen, sowohl inhaltlich als auch stilistisch, und nutzt diese, um eine Geschichte über Abenteuer, Gefahr und letztlich triumphierenden Erfolg zu erzählen.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
---|---|
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 74.4 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 40.2 |
Flesch-Reading-Ease Index | 61.5 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 8.9 |
Gunning Fog Index | 9.2 |
Coleman–Liau Index | 12 |
SMOG Index | 10.6 |
Automated Readability Index | 11.1 |
Zeichen-Anzahl | 2.042 |
Anzahl der Buchstaben | 1.646 |
Anzahl der Sätze | 19 |
Wortanzahl | 323 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 17,00 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 75 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 23.2% |
Silben gesamt | 489 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,51 |
Wörter mit drei Silben | 31 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 9.6% |