Vorlesezeit für Kinder: 8 min
Es war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Walde an dem Fuße eines Berges und brachte seine Zeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar Eimer Wasser den Berg hinauf. Manches Tier wurde damit getränkt und manche Pflanze damit erquickt, denn auf den Anhöhen weht beständig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wilden Vögel, die vor den Menschen scheuen, kreisen dann hoch und suchen mit ihren scharfen Augen nach einem Trunk.
Und weil der Einsiedler so fromm war, so ging ein Engel Gottes, seinen Augen sichtbar, mit ihm hinauf, zählte seine Schritte und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wie jener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeist ward. Als der Einsiedler in seiner Frömmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sich zu, dass er einmal von weitem sah, wie man einen armen Sünder zum Galgen führte.
Er sprach so vor sich hin „jetzt widerfährt diesem sein Recht.“ Abends, als er das Wasser den Berg hinauf trug, erschien der Engel nicht, der ihn sonst begleitete, und brachte ihm auch nicht seine Speise. Da erschrak er, prüfte sein Herz und bedachte, womit er wohl könnte gesündigt haben, weil Gott also zürne, aber er wusste es nicht.
Da aß und trank er nicht, warf sich nieder auf die Erde und betete Tag und Nacht. Und als er einmal in dem Walde so recht bitterlich weinte, hörte er ein Vöglein, das sang so schön und herrlich. Da ward er noch betrübter und sprach „wie singst du so fröhlich! dir zürnt der Herr nicht: ach, wenn du mir sagen könntest, womit ich ihn beleidigt habe, damit ich Buße täte und mein Herz auch wieder fröhlich würde!“
Da fing das Vöglein an zu sprechen und sagte „du hast Unrecht getan, weil du einen armen Sünder verdammt hast, der zum Galgen geführt wurde, darum zürnt dir der Herr. Er allein hält Gericht. Doch wenn du Buße tun und deine Sünde bereuen willst, so wird er dir verzeihen.“
Da stand der Engel neben ihm und hatte einen trockenen Ast in der Hand und sprach „diesen trockenen Ast sollst du so lange tragen, bis drei grüne Zweige aus ihm hervorsprießen, aber nachts, wenn du schlafen willst, sollst du ihn unter dein Haupt legen. Dein Brot sollst du dir an den Türen erbitten und in demselben Hause nicht länger als eine Nacht verweilen. Das ist die Buße, die dir der Herr auflegt.“
Da nahm der Einsiedler das Stück Holz und ging in die Welt zurück, die er so lange nicht gesehen hatte. Er aß und trank nichts, als was man ihm an den Türen reichte; manche Bitte aber ward nicht gehört, und manche Türe blieb ihm verschlossen, also dass er oft ganze Tage lang keinen Krumen Brot bekam.
Einmal war er vom Morgen bis Abend von Türe zu Türe gegangen, niemand hatte ihm etwas gegeben, niemand wollte ihn die Nacht beherbergen, da ging er hinaus in einen Wald und fand endlich eine angebaute Höhle, und eine alte Frau saß darin. Da sprach er „gute Frau, behaltet mich diese Nacht in Eurem Hause.“ Aber sie antwortete „nein, ich darf nicht, wenn ich auch wollte. Ich habe drei Söhne, die sind böse und wild, wenn sie von ihrem Raubzug heim kommen und finden Euch, so würden sie uns beide umbringen.“
Da sprach der Einsiedler „lasst mich nur bleiben, sie werden Euch und mir nichts tun,“ und die Frau war mitleidig und ließ sich bewegen. Da legte sich der Mann unter die Treppe und das Stück Holz unter seinen Kopf. Wie die Alte das sah, fragte sie nach der Ursache, da erzählte er ihr, dass er es zur Buße mit sich herumtrage und nachts zu einem Kissen brauche.
Er habe den Herrn beleidigt, denn als er einen armen Sünder auf dem Gang nach dem Gericht gesehen, habe er gesagt, diesem widerfahre sein Recht. Da fing die Frau an zu weinen und rief „ach, wenn der Herr ein einziges Wort also bestraft, wie wird es meinen Söhnen ergehen, wenn sie vor ihm im Gericht erscheinen.“
Um Mitternacht kamen die Räuber heim, lärmten und tobten. Sie zündeten ein Feuer an, und als das die Höhle erleuchtete und sie einen Mann unter der Treppe liegen sahen, gerieten sie in Zorn und schrien ihre Mutter an „wer ist der Mann? haben wir’s nicht verboten, irgendjemand aufzunehmen?“ Da sprach die Mutter „lasst ihn, es ist ein armer Sünder, der seine Schuld büßt.“
Die Räuber fragten „was hat er getan? Alter,“ riefen sie, „erzähl uns deine Sünden.“ Der Alte erhob sich und sagte ihnen, wie er mit einem einzigen Wort schon so gesündigt habe, dass Gott ihm zürne, und er für diese Schuld jetzt büße. Den Räubern ward von seiner Erzählung das Herz so gewaltig gerührt, dass sie über ihr bisheriges Leben erschraken, in sich gingen und mit herzlicher Reue ihre Buße begannen.
Der Einsiedler, nachdem er die drei Sünder bekehrt hatte, legte sich wieder zum Schlafe unter die Treppe. Am Morgen aber fand man ihn tot,“ und aus dem trocknen Holz, auf welchem sein Haupt lag“ waren drei grüne Zweige hoch emporgewachsen. Also hatte ihn der Herr wieder in Gnaden zu sich aufgenommen.
Hintergründe zum Märchen „Die drei grünen Zweige“
„Die drei grünen Zweige“ (KHM 206) ist eine der zehn Kinderlegenden, die im Anhang der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm zu finden sind. Die Geschichte stammt aus dem Paderbörnischen und wurde den Brüdern Grimm von der Familie Haxthausen überliefert. Die Legende wurde seit der 2. Auflage (1819) in die Sammlung der Kinder- und Hausmärchen aufgenommen. Die Legende behandelt Themen wie Gerechtigkeit, Buße, Reue und die göttliche Vorsehung. Die Geschichte vermittelt eine religiöse Botschaft, indem sie zeigt, dass nur Gott das Recht hat zu richten, und nicht die Menschen. Der Einsiedler erfährt dies auf schmerzliche Weise, als er den Tod eines Sünders für gerecht hält und daraufhin Gottes Zorn auf sich zieht.
Die drei grünen Zweige, die schließlich aus dem trockenen Ast wachsen, sind ein wichtiges Symbol in der Legende. Sie stehen für Glaube, Liebe und Hoffnung, drei zentrale christliche Tugenden. Die Zweige symbolisieren auch die Vergebung und Errettung des Einsiedlers, der seine Schuld durch seine Reue und Buße sühnt. Ein weiterer biblischer Bezug findet sich in der Erwähnung des Propheten Elija, der die Vögel tränkt und von einem Engel gespeist wird (1 Kön 17,4 LUT). Dieser Verweis unterstreicht die gottgefällige Natur des Einsiedlers und seine Verbindung zur göttlichen Vorsehung.
Die Legende von „Die drei grünen Zweige“ gehört zu einer populären Tradition von Liedern und Geschichten über reuige Sünder. Laut Hans-Jörg Uther waren diese Geschichten in der Zeit der Brüder Grimm sehr verbreitet, obwohl dieser spezielle Text nicht lange überliefert wurde. Die Legende dient als eine moralische und religiöse Erzählung und gibt Einblicke in die damalige Gesellschaft und deren Werte.
Interpretationen zum Märchen „Die drei grünen Zweige“
„Die drei grünen Zweige“ (KHM 206) ist eine Legende aus der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, die religiöse und moralische Themen behandelt. Im Laufe der Jahre haben sich verschiedene Interpretationen entwickelt, um die Botschaften und Bedeutungen der Legende zu entschlüsseln. Hier sind einige der gängigen Interpretationen:
Göttliche Gerechtigkeit und menschliches Urteil: Die Legende verdeutlicht, dass nur Gott das Recht hat, über Menschen zu richten. Der Einsiedler wird bestraft, weil er das Schicksal des Sünders am Galgen als gerecht ansieht. Diese Interpretation unterstreicht die Wichtigkeit, das eigene Urteil in moralischen Angelegenheiten zurückzunehmen und die göttliche Gerechtigkeit walten zu lassen.
Reue und Buße: Die Geschichte zeigt, dass Reue und Buße der Weg zur Erlösung sind. Der Einsiedler muss bettelnd umherziehen, bis aus dem trockenen Ast drei grüne Zweige sprießen. Diese Buße zeigt seine Demut und Reue, die schließlich zu seiner Vergebung führen. Ähnlich erkennen die räuberischen Söhne der alten Frau durch die Geschichte des Einsiedlers ihre eigenen Vergehen und kehren um.
Symbolik der drei grünen Zweige: Die grünen Zweige repräsentieren Glaube, Liebe und Hoffnung, die drei zentralen christlichen Tugenden. Das Erblühen der Zweige symbolisiert die Vergebung, die der Einsiedler durch seine Reue und Buße erfährt. Es kann auch die Wiederherstellung seines Vertrauens in die göttliche Gerechtigkeit und die Hoffnung auf Erlösung verdeutlichen.
Barmherzigkeit und Nächstenliebe: Der Einsiedler wird in der Geschichte als gütige Figur dargestellt, die sich um Tiere und Pflanzen kümmert. Seine Nächstenliebe zeigt sich, als er selbstlos mit einem trockenen Ast als Kopfkissen bettelt, um seine Schuld zu sühnen. Die Begegnung mit der alten Frau und ihren Söhnen kann auch als eine Darstellung von Barmherzigkeit und Nächstenliebe interpretiert werden.
Der Kampf zwischen Gut und Böse: Die Geschichte kann als eine Allegorie für den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse gesehen werden. Der Einsiedler repräsentiert das Gute, während die räuberischen Söhne das Böse symbolisieren. Die Bekehrung der Söhne zeigt, dass das Gute über das Böse siegen kann, wenn man sich den göttlichen Prinzipien von Reue, Buße und Nächstenliebe unterwirft.
Die Legende „Die drei grünen Zweige“ dient als Erinnerung an die Werte von Glaube, Liebe, Hoffnung, Reue, Buße und Nächstenliebe. Diese Interpretationen zeigen die vielschichtige Natur der Geschichte und ihre Fähigkeit, religiöse und moralische Botschaften zu vermitteln.
Adaptionen zum Märchen „Die drei grünen Zweige“
Obwohl „Die drei grünen Zweige“ (KHM 206) nicht zu den bekanntesten Märchen der Gebrüder Grimm gehört, gibt es einige Adaptionen und Variationen der Geschichte. Hier sind einige Beispiele:
Theaterstücke und Aufführungen: Die Legende von „Die drei grünen Zweige“ kann in Form von Theaterstücken oder Aufführungen adaptiert werden, um die Moral der Geschichte auf der Bühne darzustellen. Diese Adaptionen könnten die Originalgeschichte verwenden oder eine moderne Interpretation der Legende bieten, die auf aktuelle gesellschaftliche Themen abzielt.
Kinder- und Jugendbücher: Die Legende kann auch als illustriertes Kinder- oder Jugendbuch adaptiert werden, in dem die Geschichte in einer leicht verständlichen und zugänglichen Form für junge Leser erzählt wird. Die Illustrationen könnten die religiösen und moralischen Botschaften der Legende hervorheben und die Geschichte für ein jüngeres Publikum lebendig werden lassen.
Musik und Lieder: Da „Die drei grünen Zweige“ zur Tradition von Liedern und Geschichten über reuige Sünder gehört, kann die Geschichte auch in Form von Musik oder Liedern adaptiert werden. Diese musikalischen Adaptionen könnten die Kernbotschaften der Legende in einfühlsamen Texten und eingängigen Melodien vermitteln.
Filme und Fernsehsendungen: Die Legende könnte als Grundlage für einen Film oder eine Fernsehsendung dienen. Die Adaption könnte entweder als historisches Drama oder als moderne Interpretation der Geschichte realisiert werden, die das zeitlose Thema von Reue, Buße und göttlicher Gerechtigkeit in den Vordergrund stellt.
Kunstwerke und Illustrationen: Die Geschichte von „Die drei grünen Zweige“ kann auch in Form von Kunstwerken und Illustrationen adaptiert werden, die die verschiedenen Szenen und symbolischen Elemente der Legende einfangen. Ein Beispiel hierfür ist die Illustration von Otto Ubbelohde aus dem Jahr 1909.
Da „Die drei grünen Zweige“ eine eher weniger bekannte Geschichte ist, gibt es im Vergleich zu anderen Märchen der Gebrüder Grimm weniger konkrete Adaptionen und Variationen. Dennoch bietet die Legende mit ihren moralischen und religiösen Themen viele Möglichkeiten für kreative Adaptionen in verschiedenen Medien.
Zusammenfassung der Handlung
„Die drei grünen Zweige“ (KHM 206) ist eine Legende aus der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Die Geschichte handelt von einem gottesfürchtigen Einsiedler, der an einem Berg lebt und sich um Tiere und Pflanzen kümmert, indem er ihnen jeden Abend Wasser bringt. Ein Engel begleitet ihn auf diesen Reisen. Als der Einsiedler alt wird, sieht er eines Tages einen Sünder, der am Galgen gehängt wird. Er findet, dass dies eine gerechte Strafe ist, woraufhin der Engel nicht mehr erscheint.
Ein Vogel offenbart dem Einsiedler, dass Gott ihm zürnt, weil nur Gott das Recht hat zu richten. Der Einsiedler muss Buße tun, indem er mit einem trockenen Ast als Kopfkissen bettelnd umherzieht, bis drei grüne Zweige aus dem Ast sprießen. Auf seiner Reise trifft er auf eine alte Frau in einer Höhle, die zögert, ihn aufzunehmen, weil sie drei räuberische Söhne hat.
Die Söhne sind zunächst wütend, als sie den Einsiedler sehen, aber als sie seine Geschichte hören, erschrecken sie über ihr eigenes Leben und bereuen ihre Taten. Am nächsten Morgen findet man den Einsiedler tot, und der trockene Ast trägt drei grüne Zweige, die symbolisch für Glaube, Liebe und Hoffnung stehen, die zentralen christlichen Tugenden.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
---|---|
Nummer | KHM 206 |
Aarne-Thompson-Uther-Index | ATU Typ 756A |
Übersetzungen | DE, EN |
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 73.8 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 35.5 |
Flesch-Reading-Ease Index | 63 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 10 |
Gunning Fog Index | 11.4 |
Coleman–Liau Index | 10.7 |
SMOG Index | 10.6 |
Automated Readability Index | 10.9 |
Zeichen-Anzahl | 5.005 |
Anzahl der Buchstaben | 3.922 |
Anzahl der Sätze | 39 |
Wortanzahl | 872 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 22,36 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 115 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 13.2% |
Silben gesamt | 1.249 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,43 |
Wörter mit drei Silben | 64 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 7.3% |