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In einen See strömten lustige Bäche, und er war voll Fische und war gelegen in einsamer Gegend, dahin weder Menschen kamen noch Fischreiher und andere fischefressende Vögel vom Meere her. Diesen See entdeckte ein bejahrter Vogel, der hieß Holgott und war vom Geschlecht der Fischadler, und es gefiel ihm die angenehme Lage, die friedsame Stille rings um den See und die Reichlichkeit der Nahrung. Da gedachte er bei sich selbst: hierher willst du ziehen mit deinem Weib und allen den Deinen, denn hier finden wir genug an allem, was wir bedürfen, hier ist niemand mir widerwärtig und entgegen, und meine Kinder mögen dies Gebiet, wenn wir tot sind, als ein schönes Erbe innehaben. Nun hatte Vogel Holgott ein Weib, die saß daheim im Nest auf ihren Eiern, die nahe daran waren ausgebrütet zu sein, und dieses Weibchen hatte einen lieben Freund, auch einen Vogel, der hieß Mosam. Dieser Freund war ihr so lieb, dass ihr nicht Trank und nicht Speise schmeckte, wenn er nicht um sie war, und ohne ihn hatte sie kein Vergnügen oder Kurzweile.
Als nun ihr Mann seinen Ratschlag und Beschluss entdeckte, in jene schöne Gegend zu ziehen, aber ihr hart verbot, dem Freund Mosam davon zu sagen, so war das ihr außerordentlich leid, und sie sann auf Fünde und Ränke, wie sie diesem ihres Mannes Vorhaben heimlich stecken könne, ohne dass dieser es merke. Und da sagte sie zu ihrem Mann: »Siehe, mein teurer Holgott, nun werden unsere Jungen bald ausschlüpfen, und da ist mir eine Arznei verraten worden, sie für die Jungen zu brauchen, wenn sie auskriechen, dass ihnen ihr Gefieder stark und fest wächst: auch behütet diese Arznei sie lebenslänglich vor bösen Zufällen, diese Arznei nun möchte ich gern holen, so du mir das gestattest und es dir gefällig wäre!«
»Was ist das für ein Arcanum?« fragte Vogel Holgott, und die Frau erwiderte: »Das ist ein Fisch in einem See, der um eine Insel fließt, den niemand weiß als ich und der, welcher es mir verraten. Darum rate und bitte ich dich, setze dich an meiner Statt auf die Eier und brüte, so will ich indes den Fisch holen oder zwei, und wir wollen sie dann mitnehmen in den neuen Aufenthalt, den du uns erwählt hast.«
Darauf entgegnete der Mann: »Nicht ziemt es den Vernünftigen, alles zu versuchen, was der erste beste Arzt ihm rät; denn manche raten Dinge uns an, die zu erlangen unmöglich sind. Was frommt das Unschlitt des Löwen wohl dem Kranken oder der Nattern Gift? Soll einer darum den Löwen bestehen und die Nattern in ihrer Höhle besuchen und in die Gefahr selbsteigenen Todes sich wagen, auf eines Arztes Rat? Lass ab, o Frau, von deinem törichten Vorhaben und lass uns an jenen Ort ziehen, während unsere Jungen hierbleiben; dort findet du Fische mancherlei Art, vielleicht auch jene heilsamen, und die weiß niemand dann, außer uns. Wer an besorglicher gefahrvoller Stätte sein Heilkraut sucht, dem möchte es ergehen, wie es dem alten Affen erging.«
»Wie erging es diesem?« fragte das Vogelweibchen, und Vogel Holgott erzählte:Von zwei Affen

Hintergründe
Interpretationen
Analyse
In Bechsteins Märchen „Vogel Holgott und Vogel Mosam“ wird eine klassische Erzählung über Täuschung und Intrigen innerhalb einer Tiergemeinschaft beschrieben. Die Geschichte beginnt in einer idyllischen Umgebung – einem abgeschiedenen See, der von Bächen gespeist wird und reich an Fischen ist. Dieser Ort wurde von dem alten Fischadler Holgott entdeckt, der von der Ruhe und dem Überfluss begeistert ist und plant, mit seiner Familie dorthin zu ziehen.
Doch die Geschichte nimmt eine Wendung durch die Beziehung zwischen Holgotts Weibchen und ihrem heimlichen Freund Mosam. Obwohl Holgott seiner Frau strikt verbietet, ihren Freund über den neuen Lebensraum zu informieren, plant sie dennoch, ihn einzuweihen und sich mit ihm zu treffen. Sie erfindet eine Geschichte über ein heilendes Arcanum – einen seltenen Fisch, der das Gefieder ihrer Kinder stärken soll –, um Holgott dazu zu bringen, sie auf eine Reise gehen zu lassen.
Holgott jedoch hegt Zweifel an der Notwendigkeit dieser Reise und argumentiert, dass es töricht sei, sich in Gefahren zu begeben, um unsichere Heilmittel zu erlangen. Er erzählt eine Geschichte über Affen, um die Torheit und Gefahr solcher Unternehmungen zu illustrieren.
Die Erzählung spiegelt eine universelle Thematik wider, die oft in Märchen vorkommt: die Spannungen und Konflikte innerhalb von Beziehungen und die moralischen Lektionen, die aus Täuschung und Vertrauen zu ziehen sind. Bechstein nutzt die Tiercharaktere, um menschliche Schwächen und Stärken hervorzuheben und eine lehrreiche Botschaft über die Konsequenzen von Ehrlichkeit und Verrat zu vermitteln.
Die Erzählung von Ludwig Bechstein „Vogel Holgott und Vogel Mosam“ ist ein faszinierendes Märchen, das verschiedene Themen wie Loyalität, Täuschung, und die Suche nach einem besseren Leben behandelt. Diese Geschichte bietet Raum für unterschiedliche Interpretationen, die auf verschiedene Aspekte des Märchens fokussieren können.
Thema der Loyalität und des Verrats: Vogel Holgott verkörpert die Figur der Treue und des Verantwortungsbewusstseins. Er plant, seine Familie in einen sicheren und reich an Nahrung gesegneten Ort zu führen. Die Frau von Vogel Holgott hingegen symbolisiert den Widerspruch zwischen Ehepflichten und persönlichen Bindungen, da sie heimlich versucht, ihrem Freund Mosam Informationen weiterzugeben. Diese Diskrepanz könnte als Verrat verstanden werden.
Rollenkonflikt zwischen Pflicht und persönlichem Wunsch: Vogel Holgotts Frau steht im Konflikt zwischen ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter und ihren persönlichen Wünschen und Gefühlen gegenüber ihrem Freund Mosam. Ihre Neigung, diesen Konflikt über List und Täuschung lösen zu wollen, offenbart die Komplexität menschlicher (bzw. tierischer) Beziehungen und die Herausforderungen, die aus konkurrierenden Loyalitäten erwachsen.
Die Suche nach einem besseren Leben: Holgotts Plan, mit seiner Familie an einen besseren Ort zu ziehen, kann als Streben nach Verbesserung und Schutz für die Familie gelesen werden. Es steht im Kontrast zu den Gefahren und Unsicherheiten der gegenwärtigen Umgebung.
Moralische Lehre: Am Ende des übergeordneten Märchens, in das eine zweite Geschichte von einem alten Affen eingeflochten wird, steht oft eine Lehre. Diese Geschichten innerhalb von Geschichten sind typisch für Bechsteins Werke und fordern den Leser auf, über Verantwortung und die Konsequenzen von Handlungen nachzudenken.
Symbolik der Natur: Der unberührte, fischreiche See als Symbol für den unberührten Lebensraum und neue Chancen wird durch die Konflikte der Vögel in seiner friedlichen Idealsituation gestört, was wiederum auf die Störungen hindeutet, die persönliche Konflikte in einer harmonischen Umgebung verursachen können.
Durch diese verschiedenen thematischen Stränge bleibt „Vogel Holgott und Vogel Mosam“ ein vielschichtiges Werk, das sowohl Kinder als auch Erwachsene anspricht und zum Nachdenken über das Wesen von Beziehungen und die Komplexität ethischer Entscheidungen anregt.
In Ludwig Bechsteins Märchen „Vogel Holgott und Vogel Mosam“ lässt sich eine interessante linguistische Analyse vornehmen, die mehrere Facetten beleuchtet:
Erzählstruktur: Das Märchen folgt einer klassischen Erzählstruktur mit einer Exposition, einem Konflikt und der Entwicklung einer Handlung. Bei der Exposition wird der See beschrieben, an dem Vogel Holgott leben möchte, der Konflikt entsteht durch das Vorhaben seines Weibchens, ihren Freund Mosam zu kontaktieren, und die Handlung entwickelt sich durch die unterschiedlichen Motivationen der Charaktere.
Charakterisierung durch Sprache: Die Sprache, die verwendet wird, um die Charaktere zu beschreiben, spiegelt ihre Eigenschaften wider. Holgott, der erfahrene Vogel, wird als weise und vorsichtig dargestellt. Er spricht mit Vernunft und Vorsicht, was sich in seiner Skepsis gegenüber der vermeintlichen Arznei zeigt. Das Weibchen hingegen wird durch das Geheimhalten ihres Plans und ihren Wunsch, Mosam zu informieren, als listiger und emotional investierter Charakter gezeichnet.
Intertextuelle Verweise: Bechstein nutzt innerhalb des Märchens Anspielungen auf andere Fabeln wie die von den Affen, die Holgott in seiner Warnung anführt. Solche intertextuellen Verweise sind typisch in Märchen und Fabeln und dienen dazu, moralische Lektionen zu betonen oder bestimmte Handlungsweisen zu illustrieren.
Stilmittel: Bechstein verwendet Metaphern und Vergleiche, um die Landschaft und die Situationen lebhaft zu beschreiben. Zum Beispiel wird der See als friedlich und reich an Nahrung dargestellt, wodurch der Leser die Idylle und Begehrlichkeit der Umgebung versteht.
Sprachliche Mittel: Die gewählte Sprache ist typisch für die Zeit des 19. Jahrhunderts und den literarischen Stil von Ludwig Bechstein. Die Formulierungen sind oft verschachtelt und der Satzbau komplex, was für die damalige Märchenerzählweise charakteristisch ist.
Moral und Lehre: Wie in vielen Märchen spielt auch in diesem der moralische Unterton eine Rolle. Die Geschichte warnt vor Leichtgläubigkeit und betont die Bedeutung von Vorsicht und Weisheit bei der Entscheidungsfindung.
Diese linguistischen Elemente tragen dazu bei, das Märchen sowohl als unterhaltsame Geschichte als auch als didaktisches Instrument zu verstehen, das Lehren und Werte vermittelt, die auch heute noch von Relevanz sein können.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
---|---|
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 60.7 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 46.9 |
Flesch-Reading-Ease Index | 47.4 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 12 |
Gunning Fog Index | 15.3 |
Coleman–Liau Index | 11.9 |
SMOG Index | 12 |
Automated Readability Index | 12 |
Zeichen-Anzahl | 2.854 |
Anzahl der Buchstaben | 2.289 |
Anzahl der Sätze | 16 |
Wortanzahl | 487 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 30,44 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 80 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 16.4% |
Silben gesamt | 740 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,52 |
Wörter mit drei Silben | 50 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 10.3% |