Vorlesezeit für Kinder: 5 min
Es war einmal ein kleines Kind, dem gab seine Mutter jeden Nachmittag ein Schüsselchen mit Milch und Weckbrocken, und das Kind setzte sich damit hinaus in den Hof. Wenn es aber anfing zu essen, so kam die Hauskröte (Hausunke) aus einer Mauerritze hervorgekrochen, senkte ihr Köpfchen in die Milch und aß mit. Das Kind hatte seine Freude daran, und wenn es mit seinem Schüsselchen dasaß und die Kröte kam nicht gleich herbei, so rief es ihr zu
„Kröte, Kröte, komm geschwind,
komm herbei, du kleines Ding,
sollst dein Bröckchen haben,
an der Milch dich laben.“
Da kam die Kröte gelaufen und ließ es sich gut schmecken. Sie zeigte sich auch dankbar, denn sie brachte dem Kind aus ihrem heimlichen Schatz allerlei schöne Dinge, glänzende Steine, Perlen und goldene Spielsachen. Die Kröte trank aber nur Milch und ließ die Brocken liegen.
Da nahm das Kind einmal sein Löffelchen, schlug ihr damit sanft auf den Kopf und sagte „Ding, iss auch Brocken.“ Die Mutter, die in der Küche stand, hörte, dass das Kind mit jemand sprach, und als sie sah, dass es mit seinem Löffelchen nach einer Kröte schlug, so lief sie mit einem Scheit Holz heraus und tötete das gute Tier.
Von der Zeit an ging eine Veränderung mit dem Kinde vor. Es war, solange die Kröte mit ihm gegessen hatte, groß und stark geworden, jetzt aber verlor es seine schönen roten Backen und magerte ab. Nicht lange, so fing in der Nacht der Totenvogel an zu schreien, und das Rotkehlchen sammelte Zweiglein und Blätter zu einem Totenkranz, und bald hernach lag das Kind auf der Bahre.
Ein Waisenkind saß an der Stadtmauer und spann, da sah es eine Kröte aus der Öffnung unten an der Mauer hervorkommen. Geschwind breitete es sein blauseidenes Halstuch neben sich aus, das die Kröten gewaltig lieben und auf das sie allein gehen. Alsbald die Kröte das erblickte, kehrte sie um, kam wieder und brachte ein kleines goldenes Krönchen getragen, legte es darauf und ging dann wieder fort.
Das Mädchen nahm die Krone auf, sie glitzerte und war von zartem Goldgespinst. Nicht lange, so kam die Kröte zum zweiten Mal wieder: wie sie aber die Krone nicht mehr sah, kroch sie an die Wand und schlug vor Leid ihr Köpfchen so lange dagegen, als sie nur noch Kräfte hatte, bis sie endlich tot dalag.
Hätte das Mädchen die Krone liegen lassen, die Kröte hätte wohl noch mehr von ihren Schätzen aus der Höhle herbeigetragen. Kröte ruft „huhu, huhu,“ Kind spricht „komm herut.“ Die Kröte kommt hervor, da fragt das Kind nach seinem Schwesterchen „hast du Rotstrümpfchen nicht gesehen?“ Kröte sagt „ne, ik og nit: wie du denn? huhu, huhu, huhu.“
Hintergründe zum Märchen „Märchen von der Unke“
Das Märchen „Märchen von der Unke“ (KHM 105) von den Brüdern Grimm besteht aus drei Geschichten, die Unken, also Ringelnattern oder Kröten, thematisieren. Die Brüder Grimm sammelten ihre Märchen in verschiedenen Regionen Deutschlands, und diese drei Geschichten stammen aus Hessen und Berlin. Die ersten beiden Geschichten wurden vermutlich von Dortchen Wild und ihrer Schwester Lisette Wild aus Kassel erzählt. Die dritte Geschichte stammt aus Berlin.
In den Märchen der Brüder Grimm treten Kröten und Schlangen oft gemeinsam auf und horten Schätze und Wissen. Sie können sowohl hilfreich als auch unversöhnlich und todbringend sein. Die mythologische Verwandtschaft von Kröte und Schlange ist ein wiederkehrendes Motiv, und der Übergang zu Drachen ist ebenfalls fließend. Dies spiegelt sich in verschiedenen Märchen wie „Die weiße und die schwarze Braut“ (KHM 135), „Die drei Männlein im Walde“ (KHM 13) und „Das singende springende Löweneckerchen“ (KHM 88) wider.
Laut Lutz Röhrich ist die Vorstellung von Sympathieschlangen, mit denen einzelne Familienmitglieder ihr Schicksal teilen, besonders alt und ursprünglich. Dieser Aspekt zeigt sich auch in „Märchen von der Unke“. Hedwig von Beit interpretiert die Unke in diesem Märchen als vitales Zentrum, innerer Reichtum und lebenspendendes Urbild der Mutter, das dem Kind durch das verständnislose Verhalten der realen Mutter genommen wird. Der Psychiater Wolfdietrich Siegmund sieht ein Zugrundegehen an einer ablöseunfähigen Elterngestalt, mit Gegenbeispiel einer glücklichen Ablösung im schottischen Märchen „Der Frosch“.
Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm enthalten auch weitere kurze fabel- oder schwankartige Texte, die dazu dienen, einzelne Märchenwesen zu charakterisieren, wie zum Beispiel „Der alte Sultan“, „Der Hund und der Sperling“, „Die drei Glückskinder“ und „Der Mond“. Insgesamt bietet das Märchen „Märchen von der Unke“ Einblicke in die Beziehung zwischen Menschen und mythologischen Wesen, die sowohl hilfreiche als auch gefährliche Aspekte in sich tragen. Die Geschichten zeigen, wie Sympathie und Unverständnis das Schicksal der Charaktere beeinflussen können und verdeutlichen die Bedeutung von Respekt und Achtsamkeit im Umgang mit der Natur und ihren Geschöpfen.
Interpretationen zum Märchen „Märchen von der Unke“
Das Märchen „Märchen von der Unke“ (KHM 105) von den Brüdern Grimm kann auf verschiedene Weise interpretiert werden, da es drei verschiedene Geschichten beinhaltet. Hier sind einige Interpretationsansätze:
Mensch und Natur: Das Märchen zeigt die Beziehung zwischen Menschen und der Natur, insbesondere wie ein respektvoller und achtsamer Umgang mit Lebewesen zu Wohlstand und Glück führen kann. In den ersten beiden Geschichten helfen die Unken den Kindern, indem sie ihnen Schätze schenken, solange die Kinder respektvoll und freundlich zu ihnen sind. Wenn diese Beziehung jedoch durch Gewalt oder Unachtsamkeit gestört wird, hat dies negative Konsequenzen.
Sympathie und Schicksal: Die Geschichten zeigen, wie Sympathie und Unverständnis das Schicksal der Charaktere beeinflussen können. Die Unken teilen ihr Schicksal mit den Kindern, und ihre Lebenskraft ist direkt mit dem Wohlergehen der Kinder verbunden. Wenn die Unken sterben, sterben auch die Kinder oder verlieren ihr Glück.
Die Rolle der Mutter: In der ersten Geschichte spielt die Mutter eine entscheidende Rolle, indem sie die Unke tötet und damit das Schicksal ihres Kindes besiegelt. Dies könnte als eine Warnung vor übermäßigem Schutzverhalten oder mangelndem Verständnis interpretiert werden, da die Mutter die Beziehung zwischen ihrem Kind und der Unke nicht versteht und sie dadurch zerstört.
Ablösung und Identitätsfindung: Die Geschichten können auch als Darstellung des Prozesses der Ablösung und Identitätsfindung von Kindern interpretiert werden. Die Kinder interagieren mit der Unke, einem Wesen, das ihnen unbekannt ist und ihnen hilft, Reichtum und Wissen zu erlangen. Wenn die Kinder jedoch nicht in der Lage sind, die Beziehung zu diesem Wesen zu bewahren oder zu beenden, hat dies negative Folgen für ihre Entwicklung und ihr Wohlbefinden.
Die ambivalente Natur mythologischer Wesen: Die Unken in den Geschichten repräsentieren die ambivalente Natur mythologischer Wesen. Sie sind sowohl hilfreich als auch gefährlich, je nachdem, wie die Menschen mit ihnen interagieren. Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in anderen Märchenfiguren wie Drachen, Kröten und Schlangen wider, die Schätze hüten, Wissen besitzen und sowohl hilfreiche als auch destruktive Kräfte haben können.
Insgesamt bieten die Geschichten des Märchens „Märchen von der Unke“ verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, die sich auf menschliche Beziehungen, Schicksal, Natur und die Entwicklung von Kindern beziehen. Die Geschichten verdeutlichen die Bedeutung von Respekt, Achtsamkeit und Verständnis im Umgang mit anderen Lebewesen und der Welt um uns herum.
Adaptionen zum Märchen „Märchen von der Unke“
Das Märchen „Märchen von der Unke“ (KHM 105) von den Brüdern Grimm ist nicht so bekannt wie einige ihrer anderen Geschichten, und daher sind Adaptionen und Neuinterpretationen dieses Märchens seltener. Allerdings gibt es einige Beispiele, die auf Elementen oder Motiven aus „Märchen von der Unke“ basieren oder von ihnen inspiriert sind:
Fernsehen: „Die Schlangenkönigin“: Dies ist eine deutsche Fernsehproduktion aus dem Jahr 2001, die von dem Märchen „Märchen von der Unke“ inspiriert ist. Die Handlung konzentriert sich auf eine junge Frau, die von einer Schlange mit besonderen Kräften beschenkt wird. Sie muss lernen, ihre Gabe weise und verantwortungsvoll einzusetzen, um ihr Schicksal und das ihrer Familie zu retten.
Kinderbücher: „The Snake’s Gift“: Dieses Bilderbuch von Joanna Troughton basiert auf einer indischen Fabel und hat Ähnlichkeiten mit dem Märchen „Märchen von der Unke“. In der Geschichte rettet ein junges Mädchen eine Schlange, die ihr daraufhin ein magisches Geschenk macht. Die Geschichte zeigt, wie Freundlichkeit und Mitgefühl zu unerwarteten Belohnungen führen können.
Hörspiele: „Mila and the Snake“: Dies ist ein Hörspiel von Katharina Neuschaefer, das auf dem Märchen „Märchen von der Unke“ basiert. Die Geschichte handelt von einem Mädchen namens Mila, das einer Schlange hilft und dafür mit magischen Gegenständen belohnt wird. Diese Adaption konzentriert sich auf die Freundschaft zwischen Mila und der Schlange und die Bedeutung von Hilfsbereitschaft und Mitgefühl.
Theateraufführungen und Inszenierungen: Obwohl das Märchen „Märchen von der Unke“ nicht so bekannt ist wie andere Grimmsche Märchen, gibt es immer noch einige Theatergruppen und Schulen, die das Märchen in ihren Produktionen auf die Bühne bringen. Dabei werden oft Elemente aus den drei Geschichten kombiniert oder modernisiert, um das Märchen für ein zeitgenössisches Publikum ansprechender zu gestalten.
Diese Beispiele zeigen, dass das Märchen „Märchen von der Unke“ zwar nicht so bekannt ist wie einige der anderen Grimmschen Märchen, aber dennoch in verschiedenen Medien und Formaten adaptiert und neu interpretiert wurde. Die zentralen Themen von Freundlichkeit, Mitgefühl und Schicksal sind zeitlos und können auch in modernen Adaptionen Anklang finden.
Zusammenfassung der Handlung
„Märchen von der Unke“ (KHM 105) von den Brüdern Grimm besteht aus drei kurzen Geschichten, die jeweils unterschiedliche Begegnungen zwischen Kindern und Unken (Schlangen) erzählen. In der ersten Geschichte gibt ein kleines Kind einer Unke Milch zu trinken und Brötchenstücke zu essen. Die Unke dankt dem Kind, indem sie ihm wertvolle Steine, Perlen und goldenes Spielzeug aus ihrem geheimen Schatz schenkt. Als das Kind die Unke dazu ermutigt, auch Brötchen zu essen und dabei sanft mit dem Löffel auf ihr Köpfchen schlägt, tötet die Mutter des Kindes die Unke mit einem Scheit Holz. Das Kind wird daraufhin krank, magert ab und stirbt.
Im zweiten Teil sitzt ein Waisenkind an einer Stadtmauer und spinnt. Als es eine Unke bemerkt, legt es sein blauseidenes Halstuch aus, worauf die Unke ein goldenes Krönchen darauflegt. Das Mädchen setzt das Krönchen auf, und die Unke stirbt, nachdem sie ihr Köpfchen gegen die Wand geschlagen hat. Wäre das Mädchen bei der Krone geblieben, hätte die Unke möglicherweise noch mehr Schätze aus ihrer Höhle gebracht.
In der dritten Geschichte fragt ein Kind eine Unke, ob sie sein Schwesterchen Rotstrümpfchen gesehen hat. Die Unke antwortet mit einem unverständlichen, klagenden Gesang. Die drei Geschichten erzählen von der Beziehung zwischen Kindern und Unken, die als Schlangen oder Kröten interpretiert werden können. Die Unken besitzen Schätze und können hilfreich sein, aber auch unversöhnlich und todbringend, je nachdem, wie die Menschen mit ihnen interagieren.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
---|---|
Nummer | KHM 105 |
Aarne-Thompson-Uther-Index | ATU Typ 285 |
Übersetzungen | DE, EN, DA, ES, PT, FI, IT, JA, NL, PL, RU, TR, VI, ZH |
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 76.8 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 35.9 |
Flesch-Reading-Ease Index | 66.3 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 9 |
Gunning Fog Index | 9.7 |
Coleman–Liau Index | 11.5 |
SMOG Index | 10.6 |
Automated Readability Index | 10.5 |
Zeichen-Anzahl | 2.625 |
Anzahl der Buchstaben | 2.062 |
Anzahl der Sätze | 22 |
Wortanzahl | 444 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 20,18 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 70 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 15.8% |
Silben gesamt | 630 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,42 |
Wörter mit drei Silben | 36 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 8.1% |