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Ganz anders als der faule Heinz und die dicke Trine, die sich von nichts aus ihrer Ruhe bringen ließen, dachte die hagere Liese. Sie äscherte sich ab von Morgen bis Abend und lud ihrem Mann, dem langen Lenz, so viel Arbeit auf, dass er schwerer zu tragen hatte als ein Esel an drei Säcken.
Es war aber alles umsonst, sie hatten nichts und kamen zu nichts. Eines Abends, als sie im Bette lag und vor Müdigkeit kaum ein Glied regen konnte, ließen sie die Gedanken doch nicht einschlafen.
Sie stieß ihren Mann mit dem Ellenbogen in die Seite und sprach „hörst du, Lenz, was ich gedacht habe? Wenn ich einen Gulden fände, und einer mir geschenkt würde, so wollte ich einen dazu borgen, und du solltest mir auch noch einen geben: sobald ich dann die vier Gulden beisammen hätte, so wollte ich eine junge Kuh kaufen.“
Dem Mann gefiel das recht gut, „ich weiß zwar nicht,“ sprach er, „woher ich den Gulden nehmen soll, den du von mir willst geschenkt haben, aber wenn du dennoch das Geld zusammenbringst, und du kannst dafür eine Kuh kaufen, so tust du wohl, wenn du dein Vorhaben ausführst.“
„Ich freue mich,“ fügte er hinzu, „wenn die Kuh ein Kälbchen bringt, so werde ich doch manchmal zu meiner Erquickung einen Trank Milch erhalten.“
„Die Milch ist nicht für dich,“ sagte die Frau, „wir lassen das Kalb saugen, damit es groß und fett wird, und wir es gut verkaufen können.“
„Freilich,“ antwortete der Mann, „aber ein wenig Milch nehmen wir doch, das schadet nichts.“
„Wer hat dich gelehrt mit Kühen umgehen?“ sprach die Frau, „es mag schaden oder nicht, ich will es nicht haben: und wenn du dich auf den Kopf stellst, du kriegst keinen Tropfen Milch.
Du langer Lenz, weil du nicht zu ersättigen bist, meinst du, du wolltest verzehren, was ich mit Mühe erwerbe.“
„Frau,“ sagte der Mann, „sei still, oder ich hänge dir eine Maultasche an.“
„Was,“ rief sie, „du willst mir drohen, du Nimmersatt, du Strick, du fauler Heinz.“
Sie wollte ihm in die Haare fallen, aber der lange Lenz richtete sich auf, packte mit der einen Hand die dürren Arme der hagern Liese zusammen, mit der anderen drückte er ihr den Kopf auf das Kissen, ließ sie schimpfen und hielt sie so lange, bis sie vor großer Müdigkeit eingeschlafen war.
Ob sie am anderen Morgen beim Erwachen fortfuhr zu zanken, oder ob sie ausging, den Gulden zu suchen, den sie finden wollte, das weiß ich nicht.
Hintergründe zum Märchen „Die hagere Liese“
„Die hagere Liese“ (KHM 168) ist ein Schwank, der in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm ab der 4. Auflage von 1840 zu finden ist. Es stammt aus der Sammlung Wendunmuth von Hans Wilhelm Kirchhof.
Die Brüder Grimm verwendeten zahlreiche Quellen für ihre Märchensammlung, darunter mündliche Überlieferungen, aber auch schriftliche Sammlungen von Volksmärchen. In diesem Fall stammt die Geschichte aus Kirchhofs Sammlung, die wiederum auf ältere literarische Traditionen zurückgeht. Die Grimms überarbeiteten und adaptierten die Geschichten, um sie für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen.
Die Geschichte „Die hagere Liese“ ist ein typischer Eheschwank, der humorvolle Aspekte von Ehe und Partnerschaft darstellt. Es zeigt die Streitereien zwischen einem Ehepaar und wie sie schließlich in einer Prügelszene enden. In der Version der Grimms sind die Charaktere Liese und Lenz von ihnen erfunden, und die Dialoge wurden ausgeschmückt, um die humorvollen Aspekte der Geschichte hervorzuheben.
„Die hagere Liese“ ist auch ein Beispiel dafür, wie die Brüder Grimm ihre Märchen im Laufe der Zeit weiterentwickelten. Es wurde erst in der 4. Auflage von 1840 hinzugefügt, was zeigt, dass die Grimms ihre Sammlung ständig überarbeiteten und erweiterten. Die Moral der Geschichte ist, dass das Streiten um Dinge, die man nicht hat, nur Schmerzen verursacht. Dies ist eine gemeinsame Botschaft in Eheschwänken, die oft menschliche Schwächen und Fehler auf humorvolle Weise darstellen.
In der Märchenforschung wird „Die hagere Liese“ im Kontext anderer Eheschwänke und humorvoller Geschichten untersucht. Es gibt auch Untersuchungen über die literarischen Vorlagen der Grimmschen Märchen, die den Einfluss früherer Sammlungen und mündlicher Überlieferungen auf ihre Arbeit aufzeigen.
Interpretationen zum Märchen „Die hagere Liese“
„Die hagere Liese“ (KHM 168) von den Gebrüder Grimm ist ein humorvoller Eheschwank, der menschliche Schwächen und Fehler aufzeigt. Hier sind einige Interpretationsansätze für das Märchen:
Ehe und Kommunikation: Die Geschichte zeigt die Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Liese und Lenz, die zu Streit und Missverständnissen führen. Der Humor entsteht aus den unterschiedlichen Erwartungen und Wünschen der beiden Ehepartner und zeigt, dass ein Mangel an offener Kommunikation und Verständnis zu Konflikten führen kann.
Streit um materielle Dinge: Die Diskussion um die Kuh und die Milch offenbart die unterschiedlichen Prioritäten und Wünsche des Ehepaares. Während Lenz sich auf die Vorteile für sich selbst konzentriert (Milch trinken), denkt Liese an die Bedürfnisse des Kälbchens. Die Moral der Geschichte unterstreicht die Sinnlosigkeit, um Dinge zu streiten, die man noch nicht besitzt.
Geschlechterrollen: Das Märchen kann als Kommentar zu den damaligen Geschlechterrollen interpretiert werden. Liese wird als hart arbeitende Frau dargestellt, die auch ihren Mann antreibt, während Lenz als derjenige gezeigt wird, der sich nach den Vorteilen sehnt, die eine Kuh ihm bringen würde. Die Prügelszene am Ende kann als Ausdruck der damaligen Geschlechterdynamik gesehen werden, die körperliche Züchtigung in der Ehe tolerierte.
Kontrast und Gegenüberstellung: „Die hagere Liese“ wird oft im Kontrast zu einem anderen Märchen der Gebrüder Grimm, „Der faule Heinz“ (KHM 164), betrachtet. Während „Die hagere Liese“ ein fleißiges und hart arbeitendes Ehepaar zeigt, stellt „Der faule Heinz“ ein Paar dar, das Faulheit und Bequemlichkeit schätzt. Diese Gegenüberstellung zeigt die Vielfalt der Charaktere und Situationen in den Märchen der Gebrüder Grimm.
Die Rolle des Humors: Der Humor in „Die hagere Liese“ dient dazu, menschliche Schwächen und Fehler auf humorvolle Weise darzustellen. Die Übertreibungen und die komischen Dialoge helfen, die Moral der Geschichte zu vermitteln und die Leser oder Zuhörer zu unterhalten.
Insgesamt ist „Die hagere Liese“ ein humorvoller Eheschwank, der verschiedene Aspekte menschlicher Beziehungen, Kommunikation und menschlicher Natur thematisiert. Die Interpretationen des Märchens können je nach Lesart und kulturellem Kontext variieren.
Adaptionen zum Märchen „Die hagere Liese“
Obwohl „Die hagere Liese“ (KHM 168) nicht zu den bekanntesten Märchen der Gebrüder Grimm gehört, gibt es dennoch einige Adaptionen und Umsetzungen des Märchens in unterschiedlichen Medien und Formaten. Hier sind einige Beispiele:
Theaterstücke und Aufführungen: „Die hagere Liese“ wurde in verschiedenen Theaterstücken und Aufführungen adaptiert. Zum Beispiel wurde das Märchen in das Theaterstück „Grimms Märchen im Schloss“ von Rainer Rudloff integriert, das 2004 in Schloss Burgk in Freital uraufgeführt wurde. Das Stück beinhaltete mehrere Märchen der Gebrüder Grimm, darunter auch „Die hagere Liese“.
Illustrationen: Verschiedene Künstler haben „Die hagere Liese“ im Laufe der Jahre illustriert. Zu den bekanntesten Illustrationen gehört die von Otto Ubbelohde aus dem Jahr 1909. Rudolf Schiestl hat ebenfalls eine Illustration zur Geschichte angefertigt.
Hörspiele und Audiobooks: Das Märchen wurde auch in Hörspielen und Audiobooks umgesetzt, sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Ein Beispiel ist das Hörbuch „Grimms Märchen – Ungekürzte Lesung“ von Jürgen Fritsche, das „Die hagere Liese“ zusammen mit anderen Grimmschen Märchen enthält.
Sammlungen und Anthologien: „Die hagere Liese“ wurde in verschiedenen Sammlungen und Anthologien von Märchen der Gebrüder Grimm aufgenommen. Ein Beispiel ist das Buch „Grimms Märchen – Vollständige Ausgabe“ von Jacob und Wilhelm Grimm, herausgegeben von Heinz Rölleke. Diese Ausgabe enthält sämtliche Märchen der Gebrüder Grimm, inklusive „Die hagere Liese“.
Film- und Fernsehadaptionen: Obwohl es keine spezifische Film- oder Fernsehadaption von „Die hagere Liese“ gibt, könnten Elemente der Geschichte in anderen Märchenadaptionen oder Episoden von Märchensendungen enthalten sein. Die humorvollen Aspekte des Märchens eignen sich gut für solche Umsetzungen.
Insgesamt sind die Adaptionen von „Die hagere Liese“ eher selten, da es nicht zu den bekanntesten Märchen der Gebrüder Grimm gehört. Dennoch zeigt die Vielfalt der Umsetzungen die Anpassungsfähigkeit und den bleibenden Reiz dieses humorvollen Eheschwanks.
Zusammenfassung der Handlung
„Die hagere Liese“ (KHM 168) ist ein humorvoller Eheschwank von den Gebrüder Grimm. Die Geschichte handelt von einer hart arbeitenden Frau namens Liese und ihrem Mann, dem langen Lenz. Liese arbeitet unermüdlich von morgens bis abends und überträgt ihren Eifer auch auf ihren Mann, indem sie ihm viel Arbeit auflädt. Eines Abends, als sie im Bett liegen, beginnt Liese darüber nachzudenken, was sie tun würde, wenn sie verschiedene Geldbeträge erhielte. Sie kommt zu dem Schluss, dass sie, wenn sie einen Gulden finden, einen geschenkt bekommen, einen borgen und einen von Lenz bekommen würde, eine Kuh kaufen würde.
Lenz ist erfreut über die Idee und freut sich darauf, die Milch der Kuh trinken zu können. Liese jedoch schimpft und erklärt, dass die Milch für das Kälbchen bestimmt sei und Lenz keinen Tropfen bekommen werde. Daraufhin entbrennt ein Streit zwischen den beiden, der schließlich dazu führt, dass Lenz seine Frau auf das Kissen drückt, bis sie einschläft. Die Moral der Geschichte ist, dass das Streiten um Dinge, die man noch nicht besitzt, sinnlos ist und nur Schmerzen verursacht. „Die hagere Liese“ zeigt auf humorvolle Weise menschliche Schwächen, Fehler und Kommunikationsschwierigkeiten in einer Ehe.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
---|---|
Nummer | KHM 168 |
Aarne-Thompson-Uther-Index | ATU Typ 1430 |
Übersetzungen | DE, EN, DA, ES, PT, IT, JA, NL, PL, RU, TR, VI, ZH |
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 74 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 36.7 |
Flesch-Reading-Ease Index | 64 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 10.4 |
Gunning Fog Index | 11.2 |
Coleman–Liau Index | 10.4 |
SMOG Index | 10.1 |
Automated Readability Index | 11.7 |
Zeichen-Anzahl | 2.424 |
Anzahl der Buchstaben | 1.844 |
Anzahl der Sätze | 17 |
Wortanzahl | 415 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 24,41 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 51 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 12.3% |
Silben gesamt | 579 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,40 |
Wörter mit drei Silben | 24 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 5.8% |