Vorlesezeit für Kinder: 6 min
Als Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben waren, so mussten sie auf unfruchtbarer Erde sich ein Haus bauen und im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot essen. Adam hackte das Feld und Eva spann Wolle.
Eva brachte jedes Jahr ein Kind zur Welt, die Kinder waren aber ungleich, einige schön, andere hässlich. Nachdem eine geraume Zeit verlaufen war, sendete Gott einen Engel an die beiden und ließ ihnen entbieten, dass er kommen und ihren Haushalt schauen wollte. Eva, freudig, dass der Herr so gnädig war, säuberte emsig ihr Haus, schmückte es mit Blumen und streute Binsen auf den Estrich.
Dann holte sie ihre Kinder herbei, aber nur die schönen. Sie wusch und badete sie, kämmte ihnen die Haare, legte ihnen neu gewaschenen Hemden an und ermahnte sie, in der Gegenwart des Herrn sich anständig und züchtig zu betragen. Sie sollten sich vor ihm sittig neigen, die Hand darbieten und auf seine Fragen bescheiden und verständig antworten.
Die hässlichen Kinder aber sollten sich nicht sehen lassen. Das eine verbarg sie unter das Heu, das andere unter das Dach, das dritte in das Stroh, das vierte in den Ofen, das fünfte in den Keller, das sechste unter eine Kufe, das siebente unter das Weinfass, das achte unter ihren alten Pelz, das neunte und zehnte unter das Tuch, aus dem sie ihnen Kleider zu machen pflegte, und das elfte und zwölfte unter das Leder, aus dem sie ihnen die Schuhe zuschnitt.
Eben war sie fertig geworden, als es an die Haustüre klopfte. Adam blickte durch eine Spalte und sah, dass es der Herr war. Ehrerbietig öffnete er, und der himmlische Vater trat ein. Da standen die schönen Kinder in der Reihe, neigten sich, boten ihm die Hände dar und knieten nieder. Der Herr aber fing an sie zu segnen, legte auf den ersten seine Hände und sprach:
„Du sollst ein gewaltiger König werden,“ ebenso zu dem zweiten: „Du ein Fürst,“ zu dem dritten: „Du ein Graf,“ zu dem vierten: „Du ein Ritter,“ zu dem fünften: „Du ein Edelmann,“ zu dem sechsten: „Du ein Bürger,“ zum siebenten: „Du ein Kaufmann,“ zu dem achten: „Du ein gelehrter Mann.“ Er erteilte ihnen also allen seinen reichen Segen. Als Eva sah, dass der Herr so mild und gnädig war, dachte sie: „Ich will meine ungestalten Kinder herbeiholen, vielleicht, dass er ihnen auch seinen Segen gibt.“ Sie lief also und holte sie aus dem Heu, Stroh, Ofen, und wo sie sonst hin versteckt waren, hervor.
Da kam die ganze grobe, schmutzige, grindige und rußige Schar. Der Herr lächelte, betrachtete sie alle und sprach: „Auch diese will ich segnen.“ Er legte auf den ersten die Hände und sprach zu ihm: „Du sollst werden ein Bauer,“ zu dem zweiten: „Du ein Fischer,“ zu dem dritten: „Du ein Schmied,“ zu dem vierten: „Du ein Lohgerber,“ zu dem fünften: „Du ein Weber,“ zu dem sechsten: „Du ein Schuhmacher,“ zu dem siebenten: „Du ein Schneider,“ zu dem achten: „Du ein Töpfer,“ zu dem neunten: „Du ein Karrenführer,“ zu dem zehnten: „Du ein Schiffer,“ zu dem elften: „Du ein Bote,“ zu dem zwölften: „Du ein Hausknecht dein leben lang.“ Als Eva das alles mit angehört hatte, sagte sie: „Herr, wie teilst du deinen Segen so ungleich! Es sind doch alle meine Kinder, die ich geboren habe: deine Gnade sollte über alle gleich ergehen.“
Gott aber erwiderte: „Eva, das verstehst du nicht. Mir gebührt und ist not, dass ich die ganze Welt mit deinen Kindern versehe: wenn sie alle Fürsten und Herren wären, wer sollte Korn bauen, dreschen, mahlen und backen? wer schmieden, weben, zimmern, bauen, graben, schneiden und mähen? Jeder soll seinen Stand vertreten, dass einer den anderen erhalte und alle ernährt werden wie am Leib die Glieder.“ Da antwortete Eva: „Ach Herr, vergib, ich war zu rasch, dass ich dir einredete, Dein göttlicher Wille geschehe auch an meinen Kindern.“
Hintergründe zum Märchen „Die ungleichen Kinder Evas“
Das Märchen „Die ungleichen Kinder Evas“ (KHM 180) von den Gebrüdern Grimm hat seinen Ursprung in einer älteren literarischen Tradition und spiegelt die gesellschaftlichen und religiösen Vorstellungen seiner Zeit wider.
Herkunft: Die Geschichte geht auf Hans Sachs‘ Reimschwank von 1558 zurück und wurde von Johannes Agricola 1528 aus italienischen Quellen übertragen und verchristlicht. Die Brüder Grimm nahmen das Märchen in der 5. Auflage ihrer Kinder- und Hausmärchen (1843) auf.
Gesellschaftliche Vorstellungen: Das Märchen thematisiert die Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Ständen und Berufen. Die Tatsache, dass Gott sowohl schöne (Adlige und Gelehrte) als auch hässliche Kinder (mit einfachen Berufen) segnet, verdeutlicht die Idee, dass alle Stände notwendig sind, um die Gesellschaft funktionieren zu lassen. Dieser Aspekt betont die Wichtigkeit von Zusammenarbeit und gegenseitiger Abhängigkeit.
Religiöse Vorstellungen: In der Erzählung wird die Herkunft der Stände im lutherischen Sinne gerechtfertigt. Die Erklärung, dass Gott alle Stände erschaffen hat und sie alle notwendig sind, reflektiert die protestantische Auffassung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott, unabhängig von ihrem sozialen Status.
Bedeutung im Gesamtwerk der Grimms: Das Märchen „Die ungleichen Kinder Evas“ ist ein Beispiel für die vielfältigen Themen, die in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm behandelt werden. Es zeigt ihre Bemühungen, Volksmärchen, Sagen und andere literarische Quellen zu sammeln und zu bewahren, um ein breites Spektrum von Geschichten und kulturellen Ausdrucksformen widerzuspiegeln.
Insgesamt vermittelt „Die ungleichen Kinder Evas“ eine Botschaft der Akzeptanz und Wertschätzung von Unterschieden innerhalb der Gesellschaft und betont die Notwendigkeit von Zusammenarbeit und gegenseitiger Unterstützung.
Interpretationen zum Märchen „Die ungleichen Kinder Evas“
Das Märchen „Die ungleichen Kinder Evas“ (KHM 180) von den Gebrüdern Grimm bietet verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Hier sind einige mögliche Lesarten:
Soziale Unterschiede und Zusammenarbeit: Das Märchen zeigt, dass trotz der Unterschiede in Schönheit, Talent und sozialem Status alle Menschen einen wichtigen Platz in der Gesellschaft haben. Es betont die Bedeutung von Zusammenarbeit und gegenseitiger Unterstützung, um eine funktionierende Gemeinschaft zu gewährleisten. Jeder Stand und Beruf trägt auf seine Weise zum Wohl der Gesellschaft bei.
Göttliche Gerechtigkeit und Gleichheit: Die Geschichte vermittelt die Botschaft, dass alle Menschen gleichwertig sind, unabhängig von ihrem äußeren Erscheinungsbild oder ihrer sozialen Stellung. Gott segnet sowohl die schönen als auch die hässlichen Kinder und gibt ihnen unterschiedliche Berufe, die alle notwendig sind. Diese Idee unterstreicht die Gleichheit aller Menschen vor Gott und die göttliche Gerechtigkeit.
Die Rolle von Eva: Eva, die Mutter aller Kinder, versucht, ihre schönen Kinder vorzuziehen, indem sie die hässlichen Kinder versteckt. Ihre Handlung zeigt eine menschliche Schwäche und eine Tendenz, äußerliche Schönheit höher zu bewerten. Die Geschichte lehrt, dass es nicht richtig ist, Menschen aufgrund ihres Aussehens zu beurteilen oder zu bevorzugen.
Erziehung und Selbstakzeptanz: Das Märchen zeigt die Wichtigkeit von Erziehung und Selbstakzeptanz. Eva lernt durch ihre Erfahrung mit Gott, dass alle ihre Kinder, unabhängig von ihrem Aussehen, wichtig und wertvoll sind. Diese Botschaft kann als Ermutigung für Eltern und Kinder verstanden werden, sich selbst und andere so zu akzeptieren, wie sie sind.
Die Balance von Schönheit und Nützlichkeit: Die Geschichte zeigt, dass Schönheit allein nicht ausreicht, um erfolgreich und glücklich im Leben zu sein. Die hässlichen Kinder mit einfachen Berufen sind ebenso wichtig für die Gesellschaft wie ihre schönen Geschwister. Diese Idee betont die Bedeutung der Balance zwischen Schönheit und Nützlichkeit in der Welt.
Insgesamt bietet das Märchen „Die ungleichen Kinder Evas“ eine Vielzahl von Interpretationen, die sowohl ethische als auch soziale Fragen aufwerfen. Es lehrt uns über die Anerkennung von Unterschieden, die Wichtigkeit von Zusammenarbeit und die Gleichheit aller Menschen vor Gott.
Adaptionen zum Märchen „Die ungleichen Kinder Evas“
Obwohl „Die ungleichen Kinder Evas“ (KHM 180) nicht zu den bekanntesten Märchen der Gebrüder Grimm gehört, hat es dennoch einige Adaptionen und Anspielungen in verschiedenen Medien erfahren. Hier sind einige Beispiele:
Theater: „Die ungleichen Kinder Evas“ wurde in verschiedenen Theaterstücken und Bühnenadaptionen aufgeführt. Eine solche Aufführung war beispielsweise im Jahr 2013 in der Comödie Fürth unter der Regie von Michael Bleiziffer zu sehen.
Musik: Der deutsche Komponist Engelbert Humperdinck schrieb das Werk „Die ungleichen Kinder Evas“ (1890), das auf dem Märchen basiert. Es handelt sich dabei um ein Melodram in drei Teilen für Sprecher und Klavier.
Kinder- und Jugendliteratur: In einigen Märchensammlungen und Anthologien wurde das Märchen „Die ungleichen Kinder Evas“ neu interpretiert oder nacherzählt, um es für ein jüngeres Publikum zugänglich zu machen. Zum Beispiel findet man eine Nacherzählung in dem Buch „Grimms Märchen für Kinder“ von Anne Geelhaar, illustriert von Gerhard Lahr und veröffentlicht im Jahr 1979.
Bildende Kunst: Verschiedene Künstler haben sich von dem Märchen inspirieren lassen und es in ihren Werken dargestellt. Zum Beispiel schuf der deutsche Maler Oskar Zwintscher eine Ölskizze mit dem Titel „Die ungleichen Kinder Evas“ (1900), die heute in der Städtischen Galerie Dresden zu sehen ist.
Film und Fernsehen: Auch wenn es keine direkte Adaption des Märchens in Film oder Fernsehen gibt, gibt es Anspielungen auf das Thema der ungleichen Kinder und die Idee, dass alle Menschen trotz ihrer Unterschiede einen Platz in der Gesellschaft haben. Eine solche Anspielung findet sich beispielsweise in der Fernsehserie „Once Upon a Time“ (2011-2018), die Märchen und Legenden neu interpretiert und in einer modernen Welt präsentiert.
Es ist wichtig zu beachten, dass Adaptionen und Anspielungen auf das Märchen „Die ungleichen Kinder Evas“ nicht so häufig sind wie bei anderen populären Grimms-Märchen. Dennoch zeigt die Vielfalt der Adaptionen und Anspielungen, dass das Märchen auch heute noch in verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen Anklang findet und seine Botschaft weiterhin relevant ist.
Zusammenfassung der Handlung
„Die ungleichen Kinder Evas“ (KHM 180) ist ein Märchen der Gebrüder Grimm, das von Adam und Eva handelt, die nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies viele Kinder bekommen, sowohl schöne als auch hässliche. Als Gott ankündigt, sie zu besuchen, putzt Eva das Haus und ermahnt ihre schönen Kinder, sich gut zu benehmen, während sie die hässlichen Kinder versteckt.
Bei seinem Besuch segnet Gott die schönen Kinder und erklärt sie zu Adligen und Gelehrten. Eva bringt daraufhin auch die hässlichen Kinder hervor, und Gott gibt ihnen einfache Berufe, um ihre Bedeutung für die Gesellschaft hervorzuheben. Gott erklärt Eva, dass alle Stände notwendig sind, damit die Menschen einander ernähren und unterstützen können. Diese Botschaft betont die Wichtigkeit von Zusammenarbeit und gegenseitiger Abhängigkeit in der Gesellschaft, unabhängig von äußerem Erscheinungsbild oder sozialem Status.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
---|---|
Nummer | KHM 180 |
Aarne-Thompson-Uther-Index | ATU Typ 758 |
Übersetzungen | DE, EN, DA, ES, PT, IT, JA, NL, PL, RU, TR, VI, ZH |
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 70.3 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 40.2 |
Flesch-Reading-Ease Index | 57.7 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 10.7 |
Gunning Fog Index | 11.6 |
Coleman–Liau Index | 11.2 |
SMOG Index | 10.9 |
Automated Readability Index | 11.1 |
Zeichen-Anzahl | 3.764 |
Anzahl der Buchstaben | 2.913 |
Anzahl der Sätze | 29 |
Wortanzahl | 636 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 21,93 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 116 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 18.2% |
Silben gesamt | 954 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,50 |
Wörter mit drei Silben | 52 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 8.2% |